Ein Schreibgerät großer Künstler – und von Mönchen: der Silberstift von der Himmelpforte
Oktober 2025
Die Klöster des Mittelalters waren spirituelle, wirtschaftliche und kulturelle Zentren – und damit auch Mittelpunkte der Schriftlichkeit. Diesen Aspekt beleuchtet ein Fund aus dem Kloster Himmelpforte bei Wernigerode (Landkreis Harz): ein Silberstift. Mit einem solchen Schreib- und Zeichengerät, das ganz aus Silber bestand oder zumindest eine Spitze aus diesem Material besaß, konnten durch Abrieb der Metallpartikel auf speziell grundiertem Pergament oder Papier Linien gezogen werden. Obgleich ausweislich erhaltener Kunstwerke und Textdokumente im 15. und 16. Jahrhundert stark in Gebrauch, sind Silberstifte im archäologischen Fundstoff sehr rar. Daher verdient der Fund von der Himmelpforte besondere Aufmerksamkeit.
Die Himmelpforte entstand als Niederlassung der Augustinereremiten 1253 oder kurz zuvor und ging im 16. Jahrhundert unter, bald nach ihrer Verwüstung während des Bauernkrieges 1525. Seit 2022 wird das heute vom Erdboden verschwundene Kloster archäologisch erforscht, wozu auch Prospektionen mit dem Metalldetektor gehören. Dabei fand sich der Silberstift im Bereich einer Terrassenböschung am Ostflügel der Klausur. In der Klosterzeit entsorgte man dort diverse Abfälle, wie weitere Funde belegen. Der Stift dürfte zusammen mit dem Unrat aus dem Klausurbereich, buchstäblich mit dem Kehricht, an seinen Auffindungsort gelangt sein.
Es handelt sich um einen 11,1 Zentimeter langen, an einem Ende spitz zulaufenden und am anderen Ende stumpfen, im Profil etwa runden Stift von bis zu 0,4 Zentimeter Durchmesser (Abbildung 1). Sein Schaft besteht aus einer Rotgusslegierung, die neben Kupfer geringe Anteile von Zinn, Zink und Blei enthält. Eine parallel und scharf ausgeprägte Längsrille könnte darauf hinweisen, dass der Stift durch Einrollen aus einem Blechstreifen gefertigt wurde. Weitere parallele Riefen entlang der Längsachse belegen eine glättende Nachbearbeitung. Am Funktionsende des Stiftes ist eine Silberspitze von circa 1,2 Zentimeter Länge angebracht (Abbildung 2). Sie zeigt Kratzer und gleichmäßige Riefen, die auf eine abschließende Zurichtung, etwa durch Zuschleifen oder Anspitzen, sowie auf den Gebrauch des Stiftes zurückzuführen sind.
Die Spitze besteht aus Silber mit einem Kupfergehalt von circa fünf Prozent, übertrifft also leicht das heutige Sterlingsilber (925/1000). Das Silber wurde angeschliffen, um es zu einer Spitze zu formen. Beim Schleifen wurden Luftblasen im Metall angeschnitten – ein deutlicher Hinweis darauf, dass es in flüssigem Zustand aufgebracht wurde. Solche Blasenbildungen sind für Silber charakteristisch und entstehen durch das sogenannte ›Spratzen‹ beim Erkalten: Während des Erstarrungsvorgangs wird gelöster Sauerstoff freigesetzt.
Auch wenn es Silberstifte, schriftlichen Nachrichten zufolge, wohl bereits in der Antike gegeben hat, erlebten sie ihre Blütezeit als eines der wichtigsten Schreib- und Zeichengeräte im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit – vor allem bei Skizzen, Entwürfen und Vor- beziehungsweise Unterzeichnungen von Tafelgemälden. Bekannt sind beispielsweise Silberstiftzeichnungen von Rogier van der Weyden (gestorben 1464), Albrecht Dürer (1471 bis 1528), Hans Baldung Grien (gestorben 1545) oder Lucas Cranach dem Älteren (gestorben 1553) sowie dem Jüngeren (1515 bis 1586) (Abbildungen 3 und 4). Auch in der Architekturzeichnung der Renaissance spielte der Silberstift eine erhebliche Rolle. Bis ins 17. Jahrhundert war der Silberstift beliebtes Utensil großer Meister, wie etwa Rembrandt (1606 bis 1669) (Abbildung 5), und verlor danach an Relevanz. Erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte der Silberstift wieder Aufmerksamkeit im Zuge einer allgemeinen kunsttechnologischen Rückbesinnung.
Vergleicht man den Silberstift mit Bleistiften aus Grafit oder echtem Blei, fällt ein deutlicher Unterschied auf: Mit Letztgenannten lassen sich bequem Grautöne schummern und wischen – mit Silberstiften ist das nur eingeschränkt möglich. Dafür bilden sie deutlich feinere Linien aus. Grautöne entstehen beim Silberstift durch Kreuzschraffuren. Die Schwärze der Linie kann auch durch den Anpressdruck variiert werden. Dadurch ergibt sich eine andere Zeichentechnik, deren Duktus einem Kupferstich ähnelt.
Gegenüber anderen Schreib- und Zeichentechniken bietet der Silberstift verschiedene Vorteile: Im Gegensatz zu Tinte und Feder schmiert er nicht, kann überallhin mitgenommen werden und erzeugt im Vergleich zu Wachs- oder Schiefertafelgriffeln eine ›höhere Auflösung‹, also feinere Linien. Er ist mithin sehr geeignet zur Darstellung von Details. Zudem sind die Linien dauerhaft. So ist er dem Künstler ein idealer Reisebegleiter. Deshalb bildete das Instrument oft eine Funktionseinheit mit Skizzenbüchern.
Die erhaltenen Silberstift-Skizzenbücher besitzen allesamt speziell vorbereitete Blätter. Auf unpräpariertem Beschreibstoff – sei es Papier oder Pergament – lässt sich mit einem Silberstift nicht schreiben oder zeichnen. Das Material Silber ist, im Gegensatz zu Blei oder dem später verwendeten Grafit, dafür zu hart. Daher ist eine Vorbehandlung notwendig, bei der ein feines, hartes Schleifmaterial auf den Untergrund aufgebracht wird. In der Vergangenheit wurde hierfür mit einem wässrigen Bindemittel vermischte Knochenasche verwendet. Nach dem Trocknen wurde die Oberfläche geglättet, meist mit einem Polierstein oder Achat.
Zusammen mit mehreren gewöhnlichen Schreibgriffeln, zahlreichen Buchbeschlägen und übrigens auch zwei aus der Klosterbibliothek stammenden, bis heute erhaltenen Himmelpforter Büchern gehört der geborgene Silberstift zu den materiellen Zeugnissen, die Bildungsaffinität, Lesekompetenz, Schreib- und wohl auch Zeichentätigkeit in der Augustinereremiten-Niederlassung belegen, die im beziehungsweise bald nach dem Bauernkrieg ihr Ende fand.
Die archäologischen Forschungen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt an der Himmelpforte finden mit Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie des Landes Sachsen-Anhalt im Rahmen des Gedenkjahres ›Gerechtigkeit. Thomas Müntzer & 500 Jahre Bauernkrieg‹ statt. In der Kabinettausstellung ›Klöster. Geplündert. In den Wirren der Bauernaufstände‹ (28. Juni 2025 bis 30. November 2025) – ein Teil der dezentralen Landesausstellung ›Gerechtigkeyt 1525‹ – im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) ist auch der Silberstift zu sehen.
Abschließend sei den ehrenamtlichen Mitarbeitern gedankt, die die Metalldetektorprospektionen an der Himmelpforte durchgeführt haben: D. Braungardt, G. Dittrich, W. Herkt, J. Holz, L. Pahl, T. Rymer, M. Schambach, J. Thurmann, T. Voigt und D. Wegner.
Text: Felix Biermann, Vera Keil, Christian-Heinrich Wunderlich
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta
Literatur
Biermann/Deutschländer 2025
F. Biermann/G. Deutschländer, Das Augustiner-Eremitenkloster Himmelpforte bei Wernigerode – von der Gründung bis zum Untergang. In: R. Maraszek/H. Meller (Hrsg.), Klöster. Geplündert. In den Wirren der Bauernaufstände (Halle [Saale] 2025) 53–68.
Van Camp 2015
A. van Camp, Metalpoint drawings in the Low Countries in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: S. Sell/H. Chapman et al., Drawing in Silver and Gold: From Leonardo to Jasper Johns. Ausstellungkat. Washington und London (Princeton/Oxford 2015) 145–188.
Meder 1909
J. Meder, Büchlein vom Silbersteft: ein Tractätlein für Moler. Beschreiben zu Nutz allen, so zu dieser Kunst Lieb tragen (Wien 1909).
Patron u. a. 2021
E. C. P. Patron/J. D. Elias/F. Arif/M. Mokhtar, The Inviable and Viable Unique Character of Silverpoint Drawing From The Past To Current Practice. Internat. Journ. Heritage, Art and Multimedia 4 (15), 2021, 100–118.




