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Billigschmuck in der Steinzeit?

August 2007

Bereits 2003 wurde die zukünftige Trasse für die Ortsumgehung Bundesstraße 246a östlich von Schönebeck projektiert. Dass die geplante Straße, die das Elbestädtchen verkehrstechnisch entlasten soll, ihrerseits quer durch eine 7000 Jahre alte Siedlung läuft, war durch Oberflächenfunde und aus Luftbildern bekannt. Aus diesem Grund wird seit September letzten Jahres auf den Bautrassen mit einer Gesamtlänge von über fünf Kilometer bei einer durchschnittlichen Trassenbreite von 20 Meter gegraben. Die archäologischen Untersuchungen dauern noch bis Mitte September diesen Jahres an, danach kann termingerecht mit dem Straßenbau begonnen werden (Abbildung 1).

Bisher wurden circa 4,5 Hektar Fläche mit fast 4000 Befunden aufgedeckt, wobei der Großteil zu einer linienbandkeramischen Siedlung (circa 5200 bis 4600 vor Christus) gehört.

Insgesamt sind derzeit 17 Langhäusern dokumentiert, von denen sieben vollständig in der Bautrasse lagen, zehn weitere sind von dem zukünftigen Straßenverlauf nur partiell erfasst worden (Abbildung 2). Beachtlich sind die Ausmaße dieser ebenerdigen Pfostenbauten mit Längen zwischen 35 Meter und 46 Meter, die Hausbreiten betragen durchschnittlich sieben Meter. Diese Dimensionen erklären sich aus der Funktionalität der Häuser, die nicht allein Wohnzwecken vorbehalten waren, sondern gleichzeitig als Stallungen und Speicherräume dienten. Parallel zu den Längswänden erstrecken sich so genannte Haus begleitende Gruben, die allgemein als Materialentnahmestellen für den Hausbau interpretiert werden. Neben typischen Befunden wie Herdstellen und Siedlungsgruben in unterschiedlichen Ausführungen, wurden sieben Brunnen beziehungsweise Wasserentnahmestellen aufgedeckt und untersucht.

Die Grundrisse der ebenerdigen Bauten zeichnen sich durch die Standspuren der einstmaligen Pfosten und die dunklen Verfüllungen der Wandgräbchen ab. Parallel zu den Längswänden heben sich Gruben als dunkle Verfärbungen ab.

Doch auch in den nachfolgenden Kulturepochen blieb dieses Gebiet weiterhin für Menschen attraktiv. So durchschneidet der südliche Teil der Trasse ein bronzezeitliches Hügelgräberfeld (Abbildung 3), außerdem zeigen sich im Fundbild Nachweise für eine Besiedlung des Areals, die in der ältesten Bronzezeit einsetzt und sich bis in die frühe Eisenzeit erstreckt. Belege hierfür sind neben den bereits erwähnten Siedlungsgruben mit zeittypischen Keramikinventaren, drei Siedlungsbestattungen sowie zwei Brunnen der Bronzezeit und schließlich drei Grubenhäuser mit eisenzeitlichem Fundmaterial. Ohne ersichtlichen Zusammenhang zu den Siedlungsstrukturen erstreckt sich im mittleren Teil der Trasse ein pit alignment (Grubenreihe) aus 43 erfassten Einzelgruben, die aber mangels datierbaren Fundmaterials zeitlich nicht näher einzugrenzen sind.

Gruben mit Toten inmitten eines Dorfes würden uns heutzutage entsetzen und sofort die Polizei auf den Plan rufen. Jedoch stellen einzelne Bestattungen im Bereich von Siedlungen in prähistorischen Epochen keine Seltenheit dar. So wurden auch auf unserer Grabung inmitten linienbandkeramischer Häuser, Herdstellen und Gruben drei Grabanlagen aufgedeckt.
Besondere Beachtung verdient dabei eine Bestattung, in welcher zwei Individuen niedergelegt waren. Bereits im oberen Teil der ovalen Grabgrube kam das vollständige Skelett eines erwachsenen Mann zum Vorschein, der auf dem Bauch liegend bestattet worden war (Abbildungen 4 und 5). Diese Art der Niederlegung eines Toten ist zwar eigentümlich, für die Bandkeramik aber nicht ungewöhnlich. Befremdlich mag erscheinen, dass die Grabgrube für den Verstorbenen eigentlich zu klein war. So sind die Beine angewinkelt und die Unterschenkel lehnen an der Grubenwand. Ebenso liegt der Schädel mit der linken Gesichtshälfte am äußersten Rand der Grube.

Bei den Freilegungsarbeiten am Skelett kamen unter dessen rechten Beinknochen die Reste eines zweiten, kindlichen Individuums zutage. Gebettet ist dieses auf der linken Körperseite und Ost-West, also dem Mann genau entgegengesetzt ausgerichtet. Die Beine des Kindes sind gestreckt und leicht gespreizt; seine Arme sind vor der Brust verschränkt, wobei die Hände die Schultern umschlingen (Abbildung 6 und 7).

Weitere Aufschlüsse über das Leben und möglicherweise auch zum Tod der Bestatteten lieferten die anthropologischen Untersuchungen: Bei dem erwachsenen Individuum handelt es sich um ein »wahres Mannsbild« – »sowas von einem Stiernacken!« schrieb Anthropologin Sandra Pichler in einer Mail an die Ausgräber. Beachtlich ist das für diese Zeiten außergewöhnlich hohe Alter des Mannes, das mit 60 bis 80 Jahren angegeben wird. Obwohl er für sein Alter noch recht rüstig gewesen sein muss, hatte das lange Leben Spuren hinterlassen, die sich auch im Skelett widerspiegeln. Eine Entzündung konnte am linken Unterschenkel diagnostiziert werden, die aber gut verheilt war. Alters- und krankheitsbedingte Veränderungen zeigten sich auch an der Wirbelsäule. Wenn seine Zähne auch stark abgenutzt und mit reichlich Zahnstein bedeckt waren, so ist es schon erstaunlich, dass der ältere Herr trotzdem noch sein vollständiges Gebiss hatte!

Das Kind – wahrscheinlich ein Junge – war zum Zeitpunkt seines Todes zwischen sieben und neun Jahre alt. Rippenbrüche weist die linke Seite des Brustkorbes auf. Diese waren aber längst verheilt und kommen als Todesursache daher nicht in Frage. Poröse Veränderungen im oberen Teil der Augenhöhlen deuten auf eine Anämie (krankhafte Veränderung des Blutbildes) hin (Abbildung 8). Eine solche Erkrankung kann durch einen Mangel an Folsäure und Eisen ausgelöst werden. Diese lebenswichtigen Spurenelemente werden hauptsächlich durch vegetabile Nahrung und bei Kleinkindern auch aus der Muttermilch aufgenommen. So ist es durchaus möglich, dass der Knabe von Schönebeck im Säuglingsalter unzureichend mit Muttermilch versorgt wurde oder eine Hungersnot zu durchleiden hatte. Infolge dieser Erkrankung kommt es zu einer Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes und zu einer Schwächung des Immunsystems. Daher können wir vermuten, dass der Junge einer Infektionskrankheit zum Opfer fiel.

Bei der Freilegung und Bergung des Kinderskelettes wurden im Hals- und Brustbereich zwölf durchbohrte Knochenanhänger vorgefunden, die ursprünglich zu einer Halskette gehörten oder im Kragenbereich eines Bekleidungsstückes angebracht waren (Abbildung 9). Sie besitzen eine Länge zwischen 15 und 20 Millimeter. Ihre Silhouetten erinnern an Tropfen oder Birnen (Abbildung 10). Von der Seite betrachtet erscheinen sie leicht gebogen und dünnen in Richtung der Durchlochung aus. Dieser Bereich ist zudem deutlich abgeflacht. Die Oberfläche aller Anhänger wirkt regelrecht blank poliert. Dies ist wohl nicht allein auf die sorgfältige Bearbeitung und Zurichtung der Knochen-Rohstücke zurückzuführen, sondern kann auch Ausdruck von Trageglanz sein. Größe und Form der knöchernen Anhänger erinnern schon auf den ersten Blick an Zähne. Mehr noch: Dem Eingeweihten wird bald klar, dass hier Hirschgrandeln imitiert wurden.

Der Begriff Hirschgrandel wird dem Laien möglicherweise nicht viel sagen, lässt aber mit Sicherheit das Herz eines jeden Jägers höher schlagen. Grandeln sind nämlich als Jagdtrophäen sehr begehrt und werden häufig zu Schmuck verarbeitet. Es sind die oberen Eckzähne des Rotwildes und finden sich nicht nur bei Hirschen sondern auch bei Kühen, bleiben bei letzteren aber kleiner. Die unteren Eckzähne sind viel kleiner und stehen nicht wie die oberen frei, sondern sind in die Schneidezahnreihe eingerückt. Obere und untere Eckzähne haben daher keinen Bisskontakt. Diese rudimentären oberen Eckzähne werden mit zunehmendem Alter immer dunkler, bedingt durch die mit der Nahrung aufgenommenen Huminsäuren. Die Braunfärbung ist, zumindest heute, ein Qualitätsmerkmal, so dass Grandeln alter Hirsche besonders begehrt sind. Noch heute haben diese Zähne einen hohen Trophäenwert, der dem eines kapitalen Geweihs kaum nachsteht. Sie werden zu Anhängern für Ketten, Armbänder und Ohrringe verarbeitet und nicht selten in Silber oder Gold gefasst. Seinem Träger sollen sie Glück und Jagderfolg bescheren.

Die Sitte, Hirschgrandeln zur Herstellung von Schmuck zu verwenden, war aber selbst in der 7000 Jahre alten Siedlung von Schönebeck nicht neu. Bereits in der jüngeren Altsteinzeit vor circa 30 000 Jahren finden sich Hirschgrandeln, die an der Wurzel durchbohrt und als Amulette getragen wurden. In den Wildbeuterkulturen der folgenden Mittelsteinzeit erfreuten sich diese Schmuckanhänger ebenfalls großer Beliebtheit. Dass auch die ersten Bauern der Jungsteinzeit hin und wieder noch auf die Jagd gingen, zeigen die Speisereste in den Abfallgruben der bandkeramischen Siedlung. Neben den überwiegenden Knochen von Haustieren wie Rind, Schaf und Ziege, finden sich vereinzelt auch solche von Reh und Rothirsch. 

Dennoch hatte man hier keine Grandeln zu Schmuck verarbeitet und dem verstorbenen Kind mit ins Grab gegeben, sondern dazu die offenbar gut bekannte Grandelform aus Knochen imitiert. Hatte man etwa nicht mehr genug Grandeln erlegter Hirsche vorrätig oder arbeitete man die Grandelform bewusst aus Knochen nach, um daraus eine ansprechende Kette zu fertigen? Wir wissen es nicht. Überliefert sind allerdings Belege ebenfalls imitierter Hirschgrandeln aus Gräbern der Kugelamphorenkultur und der Schnurkeramik. Bei dem Schönebecker Schmuck handelt es sich nach derzeitigem Wissen um die ältesten imitierten Hirschgrandeln im mitteldeutschen Raum.  

Ist es also doch nur billiger Modeschmuck, gewissermaßen der »Strass der Steinzeit«? Betrachtet man sich die knöchernen Grandeln aber genauer, so lässt sich erkennen, dass jeder der einzelnen Anhänger eine etwas andere Formgebung erfuhr und somit einen individuellen Charakter trägt. Von als Massenware hergestelltem Schmuck kann also nicht die Rede sein. Vielmehr scheinen die Knochenanhänger so gestaltet zu sein, dass sich ein Exemplar genau an das nächste fügt. Demzufolge wurden die zwölf Zahnimitate speziell für diese eine Kette hergestellt und damit ein einzigartiger Halsschmuck geschaffen (Abbildung 11).  

Nachdem die Skelette der beiden Individuen entnommen waren, fanden sich auf der Grubensohle des Grabes schließlich zwei vollständige und verzierte Keramikgefäße, von denen eines eine antike Reparatur aufwies. Dabei wurden entlang einer alten Bruchstelle gegenständig Löcher gebohrt. Ursprünglich waren durch diese Bastschnüre gefädelt, welche die beiden Gefäßhälften zusammenhielten. Um auch weiterhin eine Funktionalität der Keramik zu gewährleisten, wurden die Bruchstellen und Perforierungen mit einem wasserundurchlässigen Klebstoff - in der Regel Birkenpech – abgedichtet (Abbildungen 12 bis 14).
Es wird für uns ein Rätsel bleiben, welches Schicksal das Kind mit dem hoch betagten Mann verband. Sind beide eventuell miteinander verwandt oder zufällig zum gleichen Zeitpunkt gestorben, so dass sie in einer Grabgrube beigesetzt wurden? Möglicherweise ist eine der beiden Personen mit dem Tod der anderen in Verbindung und Verantwortung gebracht worden und musste daher in das Grab folgen?

Hinweise für einen gewaltsamen Tod finden sich aber an keinem der beiden Skelette. Lediglich die uns pietätlos erscheinende Niederlegung des erwachsenen Individuums weckt Verdachtsmomente. Die eng am Körper anliegenden Arme könnten außerdem auf eine Fesselung des alten Mannes hindeuten. Der Leichnam des Jungen hingegen wurde von seinen Hinterbliebenen liebevoll gebettet und mit Beigaben und Schmuck bedacht. Diese unsicheren Indizien suggerieren, dass der Mann wahrscheinlich dem Jungen »geopfert« wurde und ihm ins Grab zu folgen hatte. Schließlich senkt sich aber auch über dieses Grab der Schleier der Jahrtausende, und viele unserer Fragen bleiben unbeantwortet.     


Text: Christian Bogen, Hans-Jürgen Döhle, Beate Leinthaler
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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