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23 Gulden auf dem Kerbholz – ein interessantes Fundobjekt aus Wittenberg

September 2011

Bei den derzeit laufenden archäologischen Untersuchungen des Arsenalplatzes in Wittenberg konnte ein großer Latrinenschacht aufgedeckt werden, aus dessen Verfüllung ein hochinteressantes Spektrum von Fundobjekten aus der Reformationszeit geborgen werden konnte. Ein zunächst unscheinbares Holzstäbchen stellte sich bei der Konservierung als Kerbholz heraus, welches uns, in Zusammenschau mit den anderen Funden und Befunden, einen einzigartigen Einblick in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Wittenberg kurz nach dem Tod Martin Luthers und dem Ende der Wirren des Schmalkaldischen Krieges erlaubt (Abbildung 1).

Der Arsenalplatz – eine Wüstung in der Stadt

Der sogenannte Arsenalplatz befindet sich im Norden der Wittenberger Altstadt. Der bis vor kurzem völlig freie Raum umfasste ehemals ein relativ großes Stadtquartier, welches im Süden von der Scharrenstraße, im Osten von der Bürgermeisterstraße, im Westen von der Juristenstraße und im Norden vom ehemaligen Franziskanerkloster begrenzt wurde. Die Geburtsstunde des Platzes ist gleichzeitig eine der schwärzesten in der Stadtgeschichte. Am 13. Oktober 1760, während des Siebenjährigen Krieges, beschoss die Reichsarmee Wittenberg, um die sich hier festgesetzten preußischen Truppen zu vertreiben (Abbildung 2). Die Aktion gelang, aber der Preis war hoch: Ein großer Teil der Stadt ging in Flammen auf, Kunstschätze, vor allem die Ausstattung der Schlosskirche, wurden unwiederbringlich vernichtet.

Infolge des Krieges verstärkte sich der wirtschaftliche Niedergang Wittenbergs, die Ruinen des völlig zerstörten Stadtquartiers zwischen Juristen- und Bürgermeisterstrasse wurden nie wieder aufgebaut. Dieser Umstand stellt heute einen Glücksfall für die Forschung dar. Auf etwa 10.000 Quadratmetern hat sich die archäologische Substanz ohne die sonst üblichen Störungen durch moderne Keller oder auch nur Rohrleitungsgräben erhalten. Der Bau eines weiträumigen Einkaufszentrums ermöglicht jetzt, den westlichen Teil der Platzfläche umfassend archäologisch zu untersuchen (Abbildungen 3 und 4).

Eine Latrine im Hofbereich des Grundstückes Nr. 12

Für die Untersuchungen war der älteste überlieferte Stadtplan von 1623 sehr hilfreich. Schon unmittelbar unter der Platzoberfläche kamen die von Brandschutt bedeckten Erdgeschoßräume der Häuser entlang der Bürgermeisterstraße zu Tage. Damit war eine problemlose Zuordnung der Bebauung und der Grundstücke möglich. Das Grundstück Nr. 12 an der Ecke Scharrenstraße/Bürgermeisterstraße (Abbildung 5) war besonders groß und zeichnete sich insbesondere durch einen zweischiffigen, tonnengewölbten Keller aus, der im 16.Jahrhundert neu errichtet worden war.

Im Hof des Grundstückes, etwas abseits der Bebauung, konnte ein runder Schacht aus grob bearbeiteten Sandsteinblöcken freigelegt werden, der den beachtlichen Innendurchmesser von 2,80 Meter aufwies (Abbildung 6). Eine solch große Latrine war bisher in Wittenberg nie aufgedeckt worden. Der Schacht überraschte auch durch seine enorme Tiefe von über sechs Metern. Seine Sohle, die leider nicht ergraben werden konnte, lag etwa zwei Meter unter dem Grundwasserspiegel des 16. Jahrhunderts. Dieser gewaltige Aufwand für eine Entsorgungsanlage wurde nur noch übertroffen durch eine ebenfalls untersuchte »Mehrkammerlatrine« im nördlichen Teil des Arsenalplatzes, die aus insgesamt drei Schächten dieser Dimension und Tiefe bestand, welche durch überwölbte Kanäle miteinander verbunden waren (Abbildung 7).

Bei der Untersuchung des Latrinenschachtes kamen Unmengen von Funden zu Tage, die über die Ausstattung der in Grundstück Nr. 12 befindlichen Haushalte von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts Auskunft geben. Neben Keramik und Tierknochen sind dabei jene Gegenstände aus organischem Material von besonderer Wichtigkeit, die sich nur durch die Lagerung unterhalb des Grundwasserspiegels erhalten haben.

Es gibt zahlreiche Schuhreste mit durch Einschnitten verziertem Oberleder (Abbildung 8), die ohne Absatz gefertigt wurden, wie dies für das Ende des 16. Jahrhunderts typisch ist. Für die Konservierung und die Bestimmung der Leder- und Textilreste bedanke ich mich bei Herrn Breuer, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, sehr herzlich Weiterhin fanden sich Reste eines Handschuhs und sogar Teile eines Mieders (Abbildung 9). Unter den Textilfunden ist das Fragment eines Baretts erwähnenswert. Weiterhin konnten Reste eines Wachstuches geborgen werden. Neben einfachem Haushaltsgeschirr und Schankgefäßen aus Keramik verweisen bemalte Glasfragmente auf die reiche Ausstattung des Eckgrundstückes im späten 16. Jahrhundert.

Ganz nahe an die Personen, die im 16.Jahrhundert hier lebten, führt uns auch ein hölzerner und mit Leder bezogener Buchdeckel (Abbildung 10). Eingebettet in dieses reichhaltige Fundensemble ist das hölzerne Kerbholz, welches momentan den einzigen Fund seiner Art in Sachsen Anhalt darstellt.

Das Kerbholz

Das aus der Latrinenverfüllung geborgene Kerbholz (Abbildung 1) hat eine Länge von 21,5 Zentimeter und ist zwischen 1,1 und 1,8 Zentimeter breit. Auf der Unterseite trägt es eine Inschrift, welche die Jahreszahl 1558 wiedergibt (Abbildung 11). Hier befindet sich auch die Aussparung für das Einfügen des leider nicht aufgefundenen Gegenstückes. Das Kerbholz weist insgesamt 23 recht gleichmäßig eingeritzte Kerben auf, die für eine Kreditsumme von 23 Gulden stehen. Die Gleichmäßigkeit der Kerben spricht dafür, dass die Summe vom Gläubiger in einer Tranche an den Schuldner ausgeliehen wurde. Die Summe wurde handschriftlich auf einer Seite des Kerbholzes vermerkt (Abbildung 12). Hinter der Zahl steht das Zeichen für Gulden.

Aus England liegen zahlreiche Kerbhölzer als Vergleichsfunde vor. Dort war die Sitte, Schulden auf Kerbhölzer zu vermerken, noch bis in das Jahr 1826 verbreitet und akzeptiert. In England verblieb der längere Teil (the stock) beim Gäubiger und der kürzere Teil (the foil) beim Schuldner (http://www.nationalarchives.gov.uk/museum/item.asp?item_id=6, 03.01.2022). Im mitteldeutschen Raum wurden Schuldverhältnisse im 16. Jahrhundert eher urkundlich als mit Kerbhölzern festgehalten, noch dazu, wenn es sich um eine solch große Summe handelte. Nach dem Ausgleich der Schuldforderungen wurden die Kerbhölzer zerbrochen. Auch unser Wittenberger Kerbholz ist zumindest angebrochen.

Schuldner oder Gläubiger?

Neben der Bedeutung und der Verwendung der großen Summe von 23 Gulden, die im 16. Jahrhundert weit über den normalen Verdienst hinausging, steht natürlich die Frage nach den hier handelnden Personen im Raum. In Analogie zu den bereits erwähnten englischen Kerbhölzern ist es wahrscheinlich, dass der aufgefundene Teil des Kerbholzes dem Gläubiger gehörte.

Demnach hatte vielleicht der Besitzer von Haus Nr. 12 einem anderen, dessen Name sich möglicherweise vor der handschriftlichen Eintragung der Summe auf der Oberseite des Kerbholzes befindet, eine sehr große Menge Geld geliehen. Während vom Schuldner, der möglicherweise nicht in Wittenberg wohnte, momentan nichts Näheres bekannt ist, da die Inschrift auf dem Kerbholz sich einer Entzifferung entzieht, können wir uns dem Besitzer des Hauses, auf dem sich die Latrine befand, mit Hilfe der schriftlichen Quellen nähern.
Das Haus Nr. 12 war von 1548 bis mindestens 1563 im Besitz eines Georg Maßeck. An dieser Stelle bedanke ich mich bei Frau Dr. Hennen vom Forschungsprojekt »Ernestinisches Wittenberg« für die freundlicherweise erfolgte Zurverfügungstellung der Eigentümerliste zu den Hausstellen an der Bürgermeisterstraße. Auf diese Person verweist auch der bereits erwähnte Buchdeckel, der ebenfalls aus dieser Latrine geborgen werden konnte. Er ist mit geprägtem Leder überzogen. Der Einband zeigt auf der Vorder- und der Rückseite allegorische Darstellungen, mit denen das Buch identifiziert werden kann: Es handelt sich um einen Psalter Martin Luthers, welcher 1543 in Wittenberg gedruckt wurde. Für die Identifizierung des Buchtitels danke ich Herrn Dr. Mirko Gutjahr sehr herzlich. Im Rahmen um das Zentralmotiv auf der Vorderseite befinden sich oben die Initialen »G M« und unten die Jahreszahl 1545 (Abbildung 13). Das sicher sehr wertvolle Buch gehörte also sehr wahrscheinlich dem späteren Besitzer des Hauses Georg Maßeck und er hat das Werk im Jahr 1545 erworben. Diese aus der Latrine geborgenen Funde sind kennzeichnend für den materiellen Wohlstand und damit verbundenen Bedürfnisse des Bürgertums in der Zeit nach Einführung der Reformation.


Text: Holger Rode
Online-Redaktion: Tomoko Emmerling, Anja Lochner-Rechta

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