Eine bandkeramische Säuglingsbestattung
Oktober 2012
Schon immer wurde den archäologischen Hinterlassenschaften eine besondere Aufmerksamkeit beigemessen, wenn es sich um Gräber handelte.
Diese Faszination mag darin begründet liegen, dass der Tod ein die Zeiten überdauerndes Bindeglied darstellt, dem sich niemand entziehen kann. Eine außergewöhnliche Situation liegt jedoch immer dann vor, wenn die Archäologie in dieser Beziehung Merkwürdiges oder gar Fremdartiges hervorbringt.
Innerhalb der linienbandkeramischen Siedlung auf der Fundstelle III konnte ein Kindergrab (Befund 764) ausgegraben werden. Es handelt sich um eine Siedlungsbestattung und gehört damit keinem regulären Gräberfeld an (Veit 1996). Das Grab befand sich in einer so genannten hausbegleitenden Grube, die parallel zu einem Langhaus von 22,90 Meter Länge und 5,70 Meter Breite lag (Abbildung 1). Langhaus und Bestattung gehören bereits einer entwickelten Phase der Bandkeramik an. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Bestatteten um einen Bewohner dieses Hofplatzes handelte (Lüning 1991, 68–69).
Die Grabgrube war nur schwer von dem umgebenden Erdmaterial abzugrenzen. Sie war von unregelmäßig ovaler Form, Ost-West-orientiert und hatte eine Ausdehnung von etwa 0,70 Meter mal 0,50 Meter. Das bestattete Kind lag auf der linken Seite und war Südwest-Nordost-orientiert mit Blick nach Nordwesten. Die Knochen waren sehr schlecht erhalten und mussten im Block geborgen werden (Abbildung 2).
Später wurden sie unter Laborbedingungen freipräpariert. Nach einer ersten anthropologischen Analyse handelt es sich um ein Kinderskelett (Säugling, 0 bis 6 Monate alt).
Das Kind hatte zwei komplette Gefäße als Beigaben. Insbesondere für bestattete Kleinkinder ist eine enge Verbindung zu den Häusern festgestellt worden – auf den Gräberfeldern sind sie unterrepräsentiert (Simoneit 1997, 21; 103; 108).
Bereits bei der Freilegung der Bestattung konnte eine auffällige, etwa ein Zentimeter dünne Schicht aus Rötel beobachtet werden, auf die man den Kopf des Kleinkindes gebettet hatte. Auch war das größere der beiden Gefäße vollständig mit Rötel gefüllt. Ungewöhnlich ist die Position des Rötelgefäßes auf dem Kopf des Kleinkindes. Darüber hinaus war der Rand des Gefäßes abgeschlagen worden und befand sich auf dem Grabboden hinter dem Skelett. Rötel, auch Hämatit oder Blutstein genannt ist ein Mineral (oxidisches Eisenerz). Seine Farbwirkung ist bereits seit der Altsteinzeit bekannt, die ältesten Belege für die Verwendung von Hämatit sind 300.000 Jahre alt. In ethnologischen Beispielen ist seine Verwendung bis heute bezeugt. Neben seiner medizinischen Wirkung (blutstillendes Mittel) liegt seine besondere Bedeutung im Totenkult. Die Verbindung von Totenkult und roter Farbe ist in Europa durch Volkssprichwörter wie »außen rot, innen tot« bezeugt. Rot wird als Symbol für Blut, Tod und Lebenskraft gewertet. In einigen Fällen mag die Verwendung von Rötel mit der Vorstellung der Reinkarnation verbunden werden: Tote sollten wieder belebt werden (Timm 1964, passim).
In der Bandkeramik spielte dieser rote Farbstoff eine wichtige Rolle. Rötelstreuungen innerhalb der Gräber, Einfärbungen der Toten oder Beigaben in Form von geschliffenen Farbsteinen beziehungsweise mit Rötelpaste gefüllten Gefäßen gehören in den Kanon des bandkeramischen Totenkultes. Aus verschiedenen Gründen wird angenommen, dass es sich bei der Beigabe Rötel – im vorliegenden Fall ein mit Rötelpaste gefülltes Gefäß – um eine besondere Beigabe handelt. Rötel taucht überwiegend in den reicher ausgestatteten bandkeramischen Gräbern auf (Peschel 1992, 217–218).
Kindern ist diese Beigabe nur sehr selten zuteil geworden. Nach derzeitigem Forschungsstand ist die Auswahl der Beigaben bei Kindern altersabhängig:
Nach dieser Regel wird Rötel Kindern unter sechs Jahren nicht »mit auf den Weg gegeben« (Simoneit 1997, 33). Die außergewöhnliche Deponierung des Rötelgefäßes mag darüber hinaus auf eine rituelle Sonderbehandlung des Kindes hindeuten. Weiterhin ist die Bestattung des kleinen Verstorbenen überhaupt auffällig.
In der Regel haben die bisher ausgegrabenen Kleinkinder bereits das erste Lebensjahr vollendet (Simoneit 1997, 21, 107–109). Es spricht einiges dafür, dass Säuglinge auf eine Art und Weise bestattet wurden, die archäologisch nur schwer fassbar ist.
Insgesamt lässt diese von der Norm abweichende Ausübung des bandkeramischen Totenkultes auf eine besondere Wertschätzung des kleinen Verstorbenen schließen (Abbildung 3). Eine bandkeramische Familie wird plötzlich durch den Verlust eines Angehörigen individuell greifbar. Das mit Rötelpaste gefüllte Gefäß mag die (unerfüllte) Hoffnung auf Wiederkehr oder Heilung ausdrücken.
Text: Uwe Moos
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta
Literatur
J. Lüning, Frühe Bauern in Mitteleuropa im 6. und 5. Jahrtausend v. Chr. Jahrb. RGZM 35, 1988 (1991) 27-93.
C. Peschel, Regel und Ausnahme. Linearbandkeramische Bestattungssitten in Deutschland und angrenzenden Gebieten, unter besonderer Berücksichtigung der Sonderbestattungen. Inernat. Arch.9 (Espelkamp 1992).
B. Siemoneit, Das Kind in der Linienbandkeramik. Internat. Arch. 42 (Rahden [Westf.] 1997).
K. Timm, Blut und rote Farbe im Totenkult. Ethnogr.-Arch. Zeitschr. 5, 1964, 39-55.
U. Veit, Studien zum Problem der Siedlungsbestattung im europäischen Neolithikum. Tüb.Schr.z.ur- u. frügeschichtl. Arch 1 (Münsterf 1996).