»In unendlich schwerer Zeit wirtschaftlicher Not« – Eine Zeitkapsel von 1926 aus Egeln
November 2023
Eine aufgegebene und mehrere Jahrhunderte im Boden konservierte Siedlung, ein seit dem Tag seines Untergangs auf dem Grund des Meeres verborgenes Schiffswrack, eine über Jahrtausende ungeöffnete Grabkammer in einer ägyptischen Pyramide: all dies sind für die Archäologie Zeitkapseln, welche Einblicke und Informationen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte bieten. Bei diesen zufälligen Überlieferungen waren nachfolgende Generationen jedoch nie als Adressaten vorgesehen. Anders verhält es sich mit bei Grundsteinlegungen intentionell eingemauerten oder in Turmkugeln deponierten Zeitkapseln. Die zumeist in metallenen Behältern hinterlegten Akten, Urkunden oder auch Zeitungen sind explizit für die Nachwelt gedacht und sollen Auskunft über die zum Bau beziehungsweise zur Restaurierung führenden Geschehnisse sowie die damaligen Lebensumstände geben. In den vergangenen Jahrhunderten wurden diese immer wieder bei Bauarbeiten auftauchenden Dokumente oft um aktuelle Beigaben ergänzt und an Ort und Stelle belassen. So stammen etwa zwei der ältesten Zeitkapseln Sachsen-Anhalts mit bis in das 16. Jahrhundert zurückreichenden Urkunden aus den Turmkugeln des Johannis- und des Rathausturms in Aschersleben.
Wesentlich neueren Datums ist die bei den derzeit stattfindenden Renovierungs- und Umbauarbeiten am ehemaligen Gymnasium Egeln zum ›Haus der Senioren‹ im Fundamentbereich des Gebäudes gefundene, flache Blechkiste, welche sich nach einer ersten Sichtung des Inhalts schnell als Zeitkapsel vom Tag der Grundsteinlegung des Schulgebäudes im Jahr 1926 herausstellte (Abbildung 1). Neben einer umfangreichen Aktenmappe mit sowohl hand- als auch maschinengeschriebenen Seiten und einer Urkunde zur Grundsteinlegung, enthielt sie mehrere Ausgaben des Egelnschen Tageblatts, zahlreiche Banknoten und Münzen sowie ein Konvolut an Postkarten und Fotografien. Durch in die Metallkassette eingedrungene Feuchtigkeit waren die papiernen Dokumente vollständig durchnässt und teilweise bereits zersetzt, so dass zunächst eine Konservierung und Restaurierung in den Werkstätten des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt notwendig wurde.
Die zwar stark angegriffene, aber gut lesbare Gründungsurkunde informiert uns außer über das exakte Datum der Grundsteinlegung sowie den Zweck des zu errichtenden Gebäudes ebenso zu den Umständen und den anwesenden Personen: »In unendlich schwerer Zeit wirtschaftlicher Not, heute, am 27. Juni 1926 wurde in Anwesenheit von Vertretern der Behörden des preußischen Staates, von Vertretern aus Industrie, Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, der städtischen Körperschaften und den Einwohnern der Stadt die feierliche Grundsteinlegung zum Neubau der hiesigen Aufbauschule (Oberrealschule) vorgenommen.« Dem Bau der Schule gingen ausweislich der weiteren beigefügten Unterlagen bereits im Dezember 1924 Beschlüsse des Magistrats der Stadt Egeln sowie der Stadtverordnetenversammlung voraus. Diese gipfelten in einem ebenfalls der Zeitkapsel anvertrauten Vertrag der Preußischen Unterrichtsverwaltung mit der Stadtgemeinde Egeln über die Einrichtung einer staatlichen Oberrealschule, der an Heiligabend 1924 unterzeichnet und im März 1925 durch den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung bestätigt wurde. Die Einrichtung der Schule, so berichtet ein mehrseitiges, mit »Wie kam Egeln zu einer staatlichen höheren Schule« überschriebenes Dokument (Abbildung 2), ging jedoch nicht ohne Widerstände von statten.
Die Gegner des Bauprojektes führten vor allem die immensen Kosten an, welche die zu erwartenden positiven Effekten für die Stadt nicht aufwögen. Einen Eindruck der »großen finanziellen Opfer« gibt ein weiteres Protokoll einer Magistratssitzung vom 11. Juni 1926. Hier wurde einstimmig die Aufnahme eines Kredits in Höhe von 450.000,- Reichsmark für den Schulbau beschlossen. Von der in der Urkunde genannten »wirtschaftliche[n] Not« zeugen die zahlreichen beigelegten Geldscheine (Abbildung 3). Sie stammen aus dem Zeitraum von August 1914 bis September 1923 und bilden damit exakt die Jahre der Inflation in Deutschland mit der ab Mitte des Jahres 1922 beginnenden Hyperinflation ab. All diesen als Papiermark bezeichneten Scheinen war gemein, dass sie aufgrund der durch die Reichsregierung kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges aufgehobenen Eintauschpflicht der Reichsbank nicht in Goldmark umtauschbar waren.
Es handelt sich um sogenannte Darlehenskassenscheine, Reichsbanknoten und einen Notgeldschein mit Nominalwerten von zwei bis fünf Milliarden Mark, an welchen sich der zunehmende Wertverlust des Geldes deutlich ablesen lässt. Auch die insgesamt 42 der Zeitkapsel beigefügten 50-Pfennig-Münzen mit Prägedaten von 1921 bis 1922 waren bereits kurz nach ihrer Ausgabe praktisch wertlos. Erst am 15. November 1923 konnte die Inflation mit der Einführung der privatwirtschaftlich getragenen Rentenmark gestoppt werden. Diese neue Übergangswährung fand in Form von drei Rentenpfennig-Münzen ihren Weg in die Zeitkapsel, ebenso wie die am 30. August 1924 als weiteres Zahlungsmittel eingeführte Reichsmark, von welcher drei Münzen verschiedener Werte enthalten waren (Abbildung 4).
Schließlich wurde noch eine 1924 geprägte Drei-Mark-Münze beigefügt. Die zum Zeitpunkt der Grundsteinlegung inzwischen nicht mehr nutzbaren Zahlungsmittel sollten in der Zeitkapsel gewiss an die lange, nun überwundene Phase des wirtschaftlichen Niedergangs gemahnen und zugleich in Erwartung einer hoffnungsfrohen Zukunft zurückgelassen werden. Die ebenfalls der Blechschatulle anvertrauten Postkarten und Fotografien zeigen – sofern durch die deutlichen Wasserschäden noch erkennbar – sowohl in Schwarz-Weiß als auch koloriert verschiedene Motive aus Egeln. Darunter sind unter anderem Ansichten des Rathauses, der Mühle und der Domäne, also der bis in das 11. Jahrhundert zurückgehenden Wasserburg. Besondere Beachtung verdient eine auf der Rückseite mit handschriftlichen Notizen versehene Fotografie des Breitewegs in Egeln (Abbildung 5). Beidseitig entlang der Straße stehen zahlreiche Menschen auf Höhe des Gasthofes zum weißen Schwan Spalier, anhand der Kleidung ist ein Großteil als Militärangehörige zu identifizieren. Die Aufschrift nennt den Anlass dieser Versammlung: »Beisetzungsfeierlichkeit des Leutnant Kurt Rösch, des letztgefundenen Opfers der Veltheimer Weserkatastrophe in Egeln. Mittwoch 29. IV.« Damit wirft die Zeitkapsel ein überraschendes Schlaglicht auf die Verbindung Egelns zu einem im Jahr 1925 auch international beachteten Ereignis.
Während einer Übung der Reichswehr kenterte am 31. März 1925 bei Veltheim an der Weser eine mit Soldaten vollbesetzte Fähre. Bei diesem Unglück starben insgesamt 81 Menschen, das letzte Opfer – ebenjener Kurt Rösch aus Egeln – konnte erst am 23. April aus der Weser geborgen werden.
Neben der Tragik des Geschehens erhielt der Vorfall durch die Recherche zweier Journalisten politische Brisanz, gehörte die Mehrheit der umgekommenen Soldaten danach zu Zeitfreiwilligenverbänden – paramilitärischen, nicht in die Reichswehr inkorporierten Einheiten. Mit dieser sogenannten ›Schwarzen Reichswehr‹ sollte die im Versailler Vertrag festgehaltene Beschränkung des deutschen Heeres auf 100.000 Mann umgangen werden. Nachrichten aus dem In- und Ausland der Jahre 1924 bis 1926 sind auch den Ausgaben des Egelnschen Tageblatts zu entnehmen, von weitaus größerem Interesse für die Regionalgeschichte sind jedoch die zahlreichen lokalen Anzeigen (Abbildung 6). So wird beispielsweise durch den Obergerichtsvollzieher Becker über die Zwangsversteigerung von 20 Rollen Bindfaden sowie eines kleinen Schweins informiert, der Vaterländische Frauen-Verein Westeregeln bewirbt seinen freitags stattfindenden Nähabend im Ratskeller und die Adlerapotheke empfiehlt Dr. Sanders Lebertran-Emulsion zum Erhalt gesunder Kinder.
Fast auf den Tag genau neunzig Jahre nach der Grundsteinlegung für die Schule und den mit großen Hoffnungen verbundenen Anstrengungen für deren Einrichtung, hat das Gymnasium Egeln am 24. Juni 2016 seine Pforten endgültig geschlossen. Wo einst Kinder und Jugendliche lernten, werden nach dem Umbau zur stationären Pflegeeinrichtung zukünftig Senioren ihren Lebensabend verbringen. Bei der feierlichen Grundsteinlegung am 2. November 2022 wurde wie bereits knapp einhundert Jahre zuvor eine Zeitkapsel eingemauert (Abbildung 7). In einem Plastikbehälter in Form eines überdimensionierten Legosteins liegen wiederum Münzen und Banknoten sowie eine aktuelle Tageszeitung, darüber hinaus Visitenkarten, eine Zeichnung des Gebäudes, digitale Baupläne und eine Flasche Rotwein als Botschaft aus der Vergangenheit an kommende Generationen bereit.
Text: Martin Planert
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta
Literatur
B. Sauer, Die ›Schwarze Reichswehr‹ und der geplante ›Marsch auf Berlin‹. Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2008, 113–150.
U. Siekmann, Das Unglück an der Weser im Jahre 1925. Heimatland Lippe 3, 2000, 62–66. Stadtmauergeschichte(n). aschersLEBEN 1, 2016, 7–9.
E. Straßburger, Urkunden aus dem Rathausturmknopf zu Aschersleben. Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 18, 1885 (1886), 496–508.
S. Teupe, Zeit des Geldes. Die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923 (Frankfurt a. M. 2022).