Archäologie im Sommerloch? Mit der ›Brechstange‹ in Gartenzwergs Vergangenheit
September 2001
Sachsen-Anhalt ist - gemessen an seiner heutigen Einwohnerzahl und Fläche - das an vorgeschichtlichen Kulturen reichste Land der Bundesrepublik. Das hat Gründe: während unser Land heute nicht gerade zu den führenden Wirtschaftsregionen Europas gehört, war es - seit der Jungsteinzeit - eine der wohlhabendsten Gegenden nördlich der Alpen. Neben den Salzvorkommen in der Gegend um Halle waren seit der Bronzezeit auch die Erzvorkommen im Ostharz Quell von Reichtum und Anziehungspunkt für viele Völker. Die Ursachen für den einstigen Wohlstand des Landes liegen in einer Zeit, lange bevor es Menschen gab: Vor 250 Millionen Jahren, dem ›Zechstein‹. In jenem Zeitalter der Erdgeschichte entsteht eine dicke Schicht von Meeresablagerungen, darunter auch während einer kurzen Periode eine dünne Schicht eines lebensfeindlichen, schwermetallhaltigen Faulschlamms. Die Meeresablagerungen verdichten sich und bilden im Laufe der Zeit eine rohstoffreiche geologische Formation. Dem Zechstein verdankt das Land nicht nur das Salz, das einst Halle reich machte, sondern auch die Kupfervorkommen. Der Mansfelder Kupferschiefer bildet ein 1500 Kilometer langes, aber nur circa 20 bis 30 Zentimeter dünnes Band, das sich von Nordostengland bis hin nach Polen erstreckt.
Er ist der versteinerte ›Giftschlamm‹ aus dem Zechstein-Meer. Die schiefrigen, dunklen Brocken enthalten circa zwei- bis dreiprozentiges Kupfer in Form von Schwefelverbindungen (Sulfiden), Eisen, etwas Blei und sogar lohnenswerte Mengen von Silber. Der einstige ›Standortvorteil‹ der Region Ostharz und Mansfelder Land bestand darin, dass die Kupferschieferschicht dort ›ausbeißt‹ – das heißt in Oberflächennähe liegt und damit leicht abzubauen ist.
Die Bergbautätigkeit hat im Lande ihre Spuren hinterlassen - nicht nur die schon von weitem sichtbaren, riesigen Halden der frühen Neuzeit und des Industriezeitalters, sondern auch tiefe, verstürzte Schächte des Mittelalters (Pingen) (Abbildung 1), malerisch gelegene, ehemalige Kunstteiche und so weiter. Die meisten Bergbauspuren liegen allerdings tief untertage, meist viel tiefer als alle herkömmlichen archäologischen Fundstellen. Sie sind auch an oft unzugänglichen und dunklen Stellen verborgen. Sie erscheinen wenig spektakulär - um nicht zu sagen... langweilig. Die Erforschung dieser Spuren vorgeschichtlicher Rohstoffgewinnung ist Aufgabe der noch in den ersten Anfängen stehenden Montanarchäologie am Landesamt für Archäologie Sachsen-Anhalt.
Beispiel: die Grabung am Pingenzug des ehemaligen Reviers Gottlob wird vom Verein Mansfelder Bergarbeiter Sangerhausen e.V. durchgeführt, das Landesamt für Archäologie betreut den ehrenamtlich arbeitenden Verein dabei fachlich. Ein Pingenzug ist eine Kette von kleinen Schächten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, er verläuft entlang des sogenannten ›Kupferschieferausbeißenden‹ Ein schwerer Zungenbrecher, der sich erst nach mehrfachem Lesen erschließt: es sind die Stellen, an denen die dünnen Kupferschieferschichten ans Tageslicht treten (›ausbeißen‹). In aller Regel sind das die Zonen, in denen historisch der Bergbau beginnt, aus verständlichen Gründen, denn hier brauchte man nicht ›Unter Tage‹ zu gehen. Erst wenn die oberflächlichen Zonen abgebaut waren, verfolgte man die Erzschicht weiter in die Erde hinein, und je weiter man vorstieß, umso teurer, schwieriger und gefährlicher war die Rohstoffgewinnung. Teile der bisher ausgegrabenen und untersuchten Objekte - wie zum Beispiel Schachtanlagen, Öfen und so weiter - sind inzwischen rekonstruiert. Sie wurden vom Verein zum Teil bereits konserviert und können heute in einem Bergbaulehrpfad ›Am Kampf‹ in der Gemeinde Wettelrode, Landkreis Sangerhausen, besichtigt werden.
Eine Fundgattung ist erstaunlicherweise sehr selten: bergmännische Werkzeuge (›Gezähe‹). Der Grund: wenn einst Werkzeuge verloren gingen, so gerieten sie meistens in die gewaltigen Abraumhalden, oder bleiben unter Tage liegen. Dort ist es in aller Regel feucht, und Sauerstoff kann auch hinzutreten. Verwitternde schwefelhaltige Erze setzen zu allem Überfluss auch noch Schwefelsäure frei: denkbar schlechte Erhaltungsbedingungen für metallische Werkzeuge.
Umso größer war zunächst die Freude, als während einer Grabungskampagne bei Obersdorf, Landkreis. Sangerhausen, ein eisernes, meißelähnliches Gerät aus dem Haldenmaterial einer Pinge geborgen werden konnte (Abbildung 2)
Der Meißel wurde noch ›in situ‹ gefunden, also unberührt an der Stelle und in der Lage, wo er einst verloren wurde (Abbildung 3). Er steckte im untertägig aufgeschütteten Haldenmaterial einer Pinge, circa einen Meter unterhalb der heutigen Oberfläche. Die aus dem Zechstein-Kalkschutt bestehende Halde liegt oberhalb einer gut erkennbaren, noch verfüllten Schachtröhre, die auf die tieferliegenden Schichten des mindestens seit dem Mittelalter hier gewonnenen Kupferschiefers geschüttet wurde.
Eine erste Begutachtung des ›Sensationsfundes‹ in der Restaurierungswerkstatt des Landesamtes für Archäologie löste leichtes Kopfschütteln aus: Schon der gute Erhaltungszustand spricht gegen Mittelalter oder frühe Neuzeit (Abbildung 4).
Der Meißel besteht aus Eisen, was an seiner rostroten Farbe zu sehen und am Magnetismus leicht festzustellen ist. Starke Ausblühungen, die durch Korrosion des Materials entstehen und die archäologische Eisenfunde meist bis zur Unkenntlichkeit verändern, fehlen aber. Die ursprünglichen Dimensionen sind wegen der geringen Korrosion leicht zu bestimmen. Nachdem die locker anhaftenden Korrosionspartikel an zwei Stellen probeweise entfernt wurden, bestand Gewissheit: Der ›mittelalterliche‹ Meißel hat einen nahezu quadratischen Querschnitt von circa 15 Millimeter. Die Kanten sind stark abgefast (abgeschrägt). Die Länge beträgt 57 Zentimeter (Abbildung 4). Das Gezäh hat hinten einen großen Grat, in der Fachsprache Bart genannt. Dieser zeugt von einer hohen Beanspruchung. Vorn läuft das Gerät keilförmig zu und verbreitert sich etwas. Die Breite beträgt maximal 30 Millimeter. Die Flächen des Schaftes sind sehr gleichmäßig.
Für das Mittelalter und die frühe Neuzeit typische Herstellungsspuren (vom Schmieden) fehlen - das Eisen ist offensichtlich gewalzt - eine Technik, die erst im Zuge industrieller Serienfertigung seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewann.
Damit könnte die Geschichte bereits zu Ende sein - Archäologen können sich auch mal täuschen. Im Nachhinein wurde auch klar, wie der moderne Meißel in den Abraum neben der mittelalterlichen Pinge gelangt sein konnte. Es ist bekannt, dass das Gottlober Revier noch in der frühen Neuzeit (etwa im 16. und im 18. Jahrhundert) und sogar in der jüngsten Vergangenheit (etwa unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg) als sogenanntes Nachlesebergbaugebiet aufgesucht wurde. Die Schichtenabfolge der untersuchten Pinge zeigt im unteren Bereich von den Bergleuten angefahrene Streckenbereiche, die älter sind, als die höher liegende Halde, aus der der Meißel stammt.
Wie aber sahen die Meißel aus, mit denen Bergleute im Mittelalter Erz abbauten?
Sie sahen überhaupt nicht aus - es gab sie nicht. Machen wir eine Zeitreise in die Zeit um 1550, in eine mittelalterlich/frühneuzeitliche Erzgrube. Dabei helfen uns die Holzschnitte aus dem Bergbau-Lehrbuch des Georg Bauer, alias Georgius Agricola, erschienen 1547 (Abbildung 5). Zu sehen ist der idealisierte Schnitt durch eine Erzgrube, rechts ist ein Bergknappe damit beschäftigt, Gestein abzubauen, er benutzt dazu zwei hammerförmige Werkzeuge. Der Bergarbeiter hält in der rechten Hand eine Art Vorschlaghammer, den sogenannten Schlegel, damit schlägt er auf eine Art Miniaturspitzhacke, das sogenannte Eisen. Das Eisen übernimmt dabei die Funktion des Meißels. Es ist eine Art Meißel, seitlich durchbohrt und mit einem hölzernen Stiel geschäftet. Wozu diese seltsame Konstruktion, und warum werden Meißel heute nicht mehr mit einem seitlichen Stiel versehen?
Über ein ganz wesentliches Detail schweigen sich die Darstellungen bei Agricola nämlich aus: in den Gruben war es stockfinster. Allenfalls schwach brennende, flackernde Grubenlampen beleuchteten den Weg unter Tage zur Arbeit, vor Ort konnte man die Lampen allenfalls schwach brennen lassen - schon deren Sauerstoffverbrauch an den schlecht bewetterten Arbeitsplätzen hätte das verboten.
Die Grubenlampen werden bei Agricola übrigens selten dargestellt - und meistens nur in Darstellungen, wo Bergarbeiter unter Tage Wege zurücklegen. Auch die Grubenlampen waren geschäftet - die Bergarbeiter hielten sie in Fußhöhe, um eine sicheren Tritt zu haben, und um nicht geblendet zu werden. In den Lampen wurde Fett verbrannt - meistens Rindertalg (Abbildung 6), und der Verbrauch des kalorienreichen Brennstoffes war so hoch, dass manche Gruben in Hungerszeiten vorübergehend stillgelegt werden mussten. Es war also dunkel, und stellen Sie sich vor, Sie müssten dann mit einem gewöhnlichen Meißel arbeiten: die Verletzungsgefahr wäre ziemlich hoch. Mit dem hölzernen Distanzhalter war die Gefahr weitgehend gebannt.
Wenn Archäologen im Schrottcontainer wühlen.
Diese Eisen, vermutlich Ende 19. Jahrhundert, sind echte archäologische Bodenfunde. Sie sind das Ergebnis einer ganz besonderen Art von Grabung, die Archäologe Olaf Kürbis gelegentlich im Schrottcontainer einer Baustoff-Firma durchführt.
Im Mansfelder Land werden Industriedenkmale manchmal auch zu Straßenschotter verarbeitet. Eine große Halde wird von einer Baustofffirma langsam abgetragen, und die Steine zu Straßenschotter verarbeitet. Gelegentlich finden sich in den Halden, die aus der Zeit des 19/20. Jahrhunderts stammen, noch relativ gut erhaltene Werkzeuge. Damit die archäologischen Funde nicht den teuren Schredder der Schotterfirma zerstören, werden sie im Schrottabscheider von starken Magneten herausgefiltert - und landen im Container. Neben alten Schrauben, Stahlträgern und Grubenbahnschienen des 20. Jahrhunderts sind dann immer mal wieder die ›Eisen‹ des 18. und 19. Jahrhunderts mit dabei. In der Restaurierungswerkstatt von dicken Korrosionsschichten befreit, offenbaren sich diese Stücke dann tatsächlich als kleine Denkmäler der Montangeschichte. Sie zeigen den seitlichen Schlitz, in dem einst der Stiel des Eisens befestigt war (Abbildung 7). Die Linienstruktur in der Oberfläche zeigt, dass die Eisen nicht gewalzt, sondern tatsächlich geschmiedet wurden. Und neben den starken Abnutzungsspuren zeigen sie vor allem eines: die Marken ihrer einstigen ›Besitzer‹.
Die Werkzeuge nutzten sich schnell ab - schließlich war Chromvanadiumstahl mit Wolframcarbidspitze noch nicht erfunden. Nach ›Schichtende‹ brachten die Hauer ihre Eisen in die Bergschmiede, dort wurden sie nachgeschmiedet und geschliffen. Damit es nicht zu Verwechslung kam, sicherte sich jeder Besitzer sein Werkzeug mit einer Marke. Denn nichts ist schlimmer, als wenn sich Kollegen untereinander das Werkzeug stibitzen oder vertauschen - damals wie heute.
Wie Werktätige ihre Produktionsmittel sichern
Die Aktualität dieses Aspektes wird durch einen ›Fund‹ aus der Restaurierungswerkstatt des Landesamtes für Archäologie untermauert: Ein Restaurator hat vorsorglich sein Skalpell mit seinen Initialen versehen, aus berechtigter Sorge und leidvoller Erfahrung: der Werkstattleiter leiht sich gerne mal auf dem übersichtlich geordneten Arbeitstisch des Kollegen ein Skalpell aus, um »mal schnell eine Probe zu nehmen...« - und es dann irgendwo auf seinem Schreibtisch, unter dicken Siedlungsschichten, zu vergraben (Abbildung 8).
Und genauso sichern noch heute in großen Industriebetrieben die einzelnen Arbeitsgruppen ›ihren‹ Gabelstapler, ihre Kehrschaufel und ihren Schraubenschlüssel.
Text: Heiko Breuer, Olaf Kürbis, Roman Mischker, Christian-Heinrich Wunderlich
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta