Ein Grab im Fluß ohne ...
Januar 2003
Seit bereits vier Wochen quälten sich die Mitarbeiter der Ausgrabung im Thyratal bei Bösenrode, heute ein Ortsteil von Berga im Landkreis Sangerhausen, unter den im März und April 2002 noch recht widrigen Witterungsbedingungen. Sie hatten Regen, Schnee, Bodenfrost und eisigem Wind getrotzt. Schon bald würden die Bauarbeiter anrücken, die hier die Fundamente der Thyratalbrücke hochziehen sollten, dem längsten Brückenbauwerk der zukünftigen Autobahn BAB 38 von Göttingen nach Halle (Abbildung 1).
Umfangreiches Fundmaterial der Bronze- und frühen Eisenzeit war geborgen worden, aber in den Kiesen und Schottern des Talgrundes ließen sich nur einige Vorratsgruben als prähistorische Siedlungsspuren erkennen. Als die Spachtel einer Mitarbeiterin über die Fragmente eines zerscherbten Keramikgefäßes kratzte, legte sie routinemäßig die Umgebung sorgsam frei (Abbildung 2). Nach Entfernung des bedeckenden Erdreiches offenbarte sich ein mit eingeritzten Winkelbändern teppichartig verzierter Becher mit Standring (Abbildung 3). Die behutsame Untersuchung des Umfeldes ergab zwei weitere Keramikgefäße, ein geschliffenes Steinbeil sowie eine massive Steinaxt, die sich innerhalb einer länglichen Grube befanden - mithin das Inventar einer jungsteinzeitlichen Bestattung (Abbildung 4). Was fehlte, waren indes die Knochen oder die Leichenbrandreste eines Toten.
Gleich ungewöhnlich erscheint auch die Wahl des Bestattungsortes. Die Grabgrube war direkt im Kiesbett des antiken Flusslaufes angelegt worden. Ähnliche Orte, die wenig zur ewigen Ruhe der Toten geeignet erscheinen, wurden in vor- und frühgeschichtlichen Kulturen nur unter besonderen Umständen gewählt. Bekannt ist etwa die im germanischen Heldenlied besungene Grablege des westgotischen Königs Alarich im Busento. Dieses Vorgehen spiegelt die besonderen Verhältnisse eines Volkes auf der Wanderung. Wurde auch der Verstorbene im Thyratal von einer durchziehenden Völkerschaft niedergelegt?
Auch wenn das Skelett aufgrund des Bodenmilieus vollständig vergangen ist, lässt die Beigabenzusammensetzung mit Axt und Beil auf eine männliche Bestattung schließen (Abbildungen 5 bis 7). Die Form der Geräte wie auch die Gestalt und Verzierung der Keramikgefäße ordnen die Bestattung der Rössener Kultur zu, die während der ersten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrtausends (4800 bis 4500 vor Christus) zwischen Bodensee und Oder verbreitet war. Der Name dieser jungsteinzeitlichen Kulturgruppe geht auf das große Gräberfeld bei Leuna-Rössen (Landkreis Merseburg-Querfurt) zurück, das zwischen 1879 und 1890 ausgegraben wurde.
Durchgängige Bestattungsart dieser Kulturgruppe war die Körperbeisetzung in Hocklage, selten in gestreckter Haltung, mit Kopf im Süden und Blick in Richtung der aufgehenden Sonne im Osten. Die muldenförmig eingetieften Gräber waren vereinzelt mit Steinpackungen geschützt. Brandbestattungen der Rössener Kultur sind hingegen bislang nicht bekannt, weshalb auch im Falle der Bösenroder Grablege von einer Skelettbestattung ausgegangen werden darf. Im gesamten Grabungsbereich verhinderte das Bodenmilieu die Erhaltung von Knochenmaterial. Auch die Umrisse der Grabgrube zeichneten sich in diesem Boden nur recht undeutlich ab. Die beobachteten Ausmaße der Grube von etwa 0,9 mal 0,6 Meter lassen eigentlich auf die Bestattung eines kleingewachsenen Individuums, eines Kindes oder Jugendlichen, schließen. Zudem wurde der für die Bestattung verbleibende Raum in der Grube noch durch das reichhaltige Beigabenensemble eingeengt.
Die schwere Axt mit ihrer ungewöhnlicherweise vor der Mitte (und damit dem Schwerpunkt) liegender Durchbohrung dürfte jedoch ebenso wenig wie die Axt von einem Kind geführt worden sein (Abbildung 7). Äxte der Rössener Kultur waren anscheinend für den praktischen Gebrauch eher ungeeignet. In der Forschung wird allerdings ebenso eine Verwendung als Setzkeile erwogen. Auch das Exemplar des Bösenroder Grabes scheint aufgrund seiner Schäftungsweise eher als Keil oder Standesabzeichen geeignet. Nach Auskunft von Dr. Dieter Kaufmann vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle ist auch der gebänderte Amphibolit der vorliegenden Steingeräte ungewöhnlich, da in der Rössener Kultur allgemein schwärzliche Gesteine wie Kieselschiefer bevorzugt wurden.
Herausragendes Objekt der Grabausstattung ist aber zweifelsohne der flächig verzierte Fußbecher mit geschweiftem Profil (Abbildung 8). Das teppichartige Ornament ist flächendeckend eingestochen und geritzt (Abbildung 9). Die Vertiefungen waren wohl ehedem mit Farbmasse gefüllt. Das mit einem Standring versehene Gefäß datiert die Grablege in eine frühe Phase der Rössener Kultur.
Innerhalb des verzierten Fußbechers konnte bei der Ausgrabung ein nur 7,0 Zentimeter hohes Miniaturgefäß mit Kugelboden geborgen werden, das noch weitgehend vollständig erhalten war (Abbildung 10). Als weiteres Gefäß vervollständigt ein dritter Kugelbecher mit Rundboden das Ensemble (Abbildung 11). Er stand in der nördlichen Ecke der Grube.
Die ältere Phase der Rössener Kultur, die durch reich verzierte Fußbecher wie das Exemplar aus dem Grab im Thyratal charakterisiert wird, zeigt mit dem Nordharzgebiet, dem Hallenser Raum und Nordthüringen ein Verbreitungsgebiet auf, das das Gebiet zwischen Südharz und Hainleite bislang auffälligerweise ausspart. Eventuell kann dieses vermeintliche ›missing link‹ durch eine Bevorzugung von gewässernahen Grab- und Siedlungsstellen erklärt werden, die nur selten dem Archäologen die Möglichkeit der Untersuchung bieten. Aber vielleicht war die Goldene Aue für die Menschen des fünften Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung ja doch nur Durchzugsgebiet. Wer hier ungewöhnlicherweise verstarb, wurde auch an einem ungewöhnlichen Ort bestattet.
Text: Dieter Neubauer
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta