Archäologie des 20. Jahrhunderts
August 2004
Vor 90 Jahren – am 1. August 1914 – begann der erste Weltkrieg. Dies ist der aktuelle Anlass die vorläufigen Ergebnisse einer archäologischen Untersuchung im Bereich der Trasse der Bundesstraße 6n vorzustellen, bei der Überreste eines Kriegsgefangenlagers dieser Zeit dokumentiert werden konnten. Ein unmittelbar neben der Neubautrasse liegendes, von Kriegsgefangenen errichtetes Denkmal erinnert noch an diesen Platz, an dem zeitweise bis zu 12000 Menschen interniert waren (Abbildung 1). Bei der Vorbereitung der archäologischen Maßnahmen im Winter 2003 wurde deutlich, dass dieses Lager zwar bekannt war, weitergehende Informationen in Form von Akten jedoch nur spärlich zu finden waren. Als eindrucksvolle Zeugnisse hatten sich lediglich Glasplattennegative im Schlossmuseum Quedlinburg erhalten, die schlaglichtartige Einblicke in das Lager ermöglichen (Abbildung 2). Aus dem Jahre 1916 stammt eine Schrift von Leutnant R. Risse, in der die Kriegsgefangenlager im Gebiete Sachsen-Anhalts im Auftrage der Heeresleitung in stellenweise stark propagandistischer Art und Weise dargestellt werden (Abbildung 3). Die archäologisch fassbaren Reste stellen also eine Bodenurkunde erster Güte dar, die vor der Zerstörung dokumentiert werden muss. Unmittelbar unter dem Mutterboden wurden die Relikte des Lagers sichtbar und mit archäologischer Methodik dokumentiert (Abbildung 4). Dazwischen fanden sich immer wieder auch Funde und Befunde verschiedener urgeschichtlicher Epochen. So schnitt ein Betonfundament eine Grube der vorrömischen Eisenzeit (Abbildung 5). In unmittelbarer Nähe fanden sich ein eingegrabenes Vorratsgefäß der Aunjetitzer Kultur (Abbildung 6) und diverse Befunde der Völkerwanderungszeit. Die Kriegsgefangenen des ersten Weltkrieges waren also nicht die ersten Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum in der hochwassergefährdeten Bodeaue aufhielten. Auffälligerweise liegen die Pumpenschächte für die Trinkwasserversorgung des Lagers (Abbildung 7) stets nur 20 bis 30 Meter von urgeschichtlichen Brunnen (Abbildung 8) entfernt. Die Standorte der auf Pfosten gegründeten Mannschaftsbaracken konnten anhand zahlreicher Pfostenspuren rekonstruiert werden (Abbildung 9). Ein rechteckiges, auf Beton und Ziegelsteinen gegründetes Gebäude mit mittigem Schornsteinfundament war mit Kanalisationsanlagen verbunden (Abbildung 10). Die erhaltenen zeitgenössischen Bildquellen zeigen, dass es sich bei letzterem Befund um ein Waschhaus für die Gefangenen gehandelt haben dürfte. Die überall auf dem Lagergelände fassbaren Kanalisationsgräben, beweisen, dass für die Hygiene der Gefangenen durchaus Sorge getragen wurde.
Die geborgenen Funde lassen unterschiedliche Zonen im Lager differenzieren. Neben dem oben erwähnten Badehaus ist ein Grundriss einer Mannschaftsbaracke hervorragend erhalten, weitere Barackengrundrisse lassen sich rekonstruieren. Eine mit Schmiedeschlacken verfüllte Grube weist auf den Standort der auch in schriftlichen Quellen erwähnten Lagerschmiede, die ausweislich der Funde mit Eierkohlen betrieben wurde. Ein ungewöhnlicher gemauerter Befund im Westen der Fläche dürfte der Unterbau eines Generatorgebäudes gewesen sein, wobei der hier reichlich gefundene Torf einen Hinweis auf das Feuerungsmaterial gibt. Im Nordwesten der Grabungsfläche fand sich ein weiterer gemauerter Befund, der in Verbindung mit einem auf Pfosten gegründeten Gebäude stand. Ein Vergleich mit einer Abbildung aus dem Kriegsgefangenlager von Stendal legt nahe, dass es sich dabei um einen Wachturm an einer Kantine gehandelt haben dürfte (Abbildung 11). In mehreren Gruben um dieses Gebäude fanden sich zahlreiche Gegenstände, die auf Kantinenbetrieb hinweisen. Gläserne Bierhumpen belegen den Ausschank von Fassbier (Abbildung 12), während zahllose Bierflaschen einen aufschlussreichen Einblick in das lokale Brauerei- und Bierverlagswesen im frühen 20. Jahrhundert ermöglichen (Abbildung 13). Neben weiteren Anzeigern für Alkoholkonsum, wie Wein- und Schnapsgläsern, konnten auch Haarschmuck und -spangen aus Horn geborgen werden, die die Anwesenheit von Frauen belegen. Offensichtlich war hier der Bereich der Wachmannschaften, die vom Quedlinburger Landsturm gestellt wurden; ein massiver Stacheldrahtzaun trennte diese Zone von den Gefangenenbaracken. Inwiefern die Gefangenen die Lagerkantine gelegentlich aufsuchen konnten, bleibt vorerst unklar. Auffallend sind zwischen den vielen lokalen Bierflaschen eine Flasche einer Brauerei aus der französischen Krönungsstadt Reims sowie Fragmente weiterer nordfranzösischer Bierflaschen (Abbildung 14). Teilte hier ein Franzose ein aus der Heimat zugesandtes Geschenk mit deutschen Bewachern? Oder unterschlugen durstige Wachsoldaten dem Gefangenen die Gabe aus der Heimat? Sicher ist, dass die Gefangenen Pakete aus der Heimat erhielten. Im Bereich der Mannschaftsbaracken fanden sich in verschiedenen Gruben immer wieder Importwaren wie eine französische Porzellanschale (Abbildung 15) oder eine Schnürsenkelverpackung aus einem Kurzwarengeschäft in Amiens. Letztere könnte auf eine mangelhafte Versorgung der Gefangenen mit Schuhwerk hindeuten, was auch aus den zahllosen Lederresten von immer wieder geflickten und reparierten Schuhen deutlich wird (Abbildung 16). Vermutlich besaßen die Insassen lediglich die Schuhe, mit denen sie bereits in Gefangenschaft geraten waren. Auch bei der Bekleidung waren sie sicherlich primär auf ihre Uniformen angewiesen, von denen sich etliche Knöpfe fanden, die auf die Heimatländer der Soldaten schließen lassen (Abbildungen 17 bis 20).
Zahlreiche Funde aus Abfallgruben in der Nähe der Mannschaftsbaracken weisen auf den Alltag der Gefangenen. Tierknochen belegen eine Ernährung mit Fleischbrühe und nordatlantischem Trockenfisch, diverse Flaschen zeigen, dass neben Wein, Bier und Spirituosen auch Selterswasser und Brause konsumiert wurden (Abbildung 21). Tintenfässer unterschiedlicher Art sowie Blei- und Kopierstifte können als Werkzeuge des Schriftwechsels mit der Heimat gewertet werden (Abbildung 22). Zwei Spielsteine aus ortsfremdem Gestein zeigen wie der sicherlich oft eintönige Alltag aufgelockert werden konnte (Abbildung 23). Ausdruck persönlicher Hygiene sind eine Zahnbürste aus Knochen (Abbildung 24) und ein feiner (Läuse-)Kamm (Abbildung 25). Letzterer ist durch eine Aufschrift als Hamburger Erzeugnis aus dem Jahre 1915 identifizierbar. Als Kuriosum sei erwähnt, dass wenige Meter von diesem Kamm entfernt, ein etwa anderthalb Jahrtausende älterer knöcherner Dreilagenkamm, sehr ähnlicher Grundform geborgen wurde (Abbildung 26). Sehr zahlreich waren auch die Belege für das Rauchen, das seit seiner Einführung in Europa insbesondere beim Militär verbreitet war. Zahlreiche Zigarettenspitzen und Pfeifenfragmente wurden überall im Lagerbereich entdeckt. Außergewöhnlich ist ein glasierter, anthropomorpher Pfeifenkopf mit dem Portrait von Kaiser Wilhelm II (Abbildung 27).
So landete das Abbild jenes Mannes, dessen Politik nicht unmaßgeblich dazu beitrug, die Völker Europas in das blutige Gemetzel des ersten Weltkrieges zu stürzen, letztendlich mit den Abzeichen der anderen beteiligten Armeen friedlich vereint in einer Abfallgrube in der Bodeaue. Dieses versöhnliche Fazit können wir nach den vergangenen Jahrzehnten und dem Abschluss unserer Arbeiten ziehen. Auch muss festgehalten werden, dass die Funde und Befunde aus dem Kriegsgefangenlager einen deutlichen Unterscheid in der Behandlung von Kriegsgefangenen im ersten Weltkrieg im Vergleich zum zweiten Weltkrieg nahe legen. Offenbar war die Heeresverwaltung diesbezüglich weitestgehend bemüht die Haager Landkriegsordnung einzuhalten. In der anfangs erwähnten zeitgenössischen Schrift von Leutnant Risse wurde dies folgendermaßen formuliert: »Leben und Gesundheit der Kriegsgefangenen sind nach dem geltenden Kriegsrecht unantastbar. Mit ihrer Entwaffnung sind sie aus den Reihen der Kämpfer ausgeschieden und haben Anspruch auf eine Behandlung, welche in ihnen Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft sieht und die allgemeinen Grundgesetze der Menschlichkeit achtet.«
Text: Volker Demuth
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta