Römisches Flair am Harz? Vom Dach der ottonischen Köngispfalz Derenburg
November 2009
Während in einigen Gebieten Europas Dachziegel von der Antike bis ins Mittelalter kontinuierlich verwendet wurden, kamen sie in Nord- und Mitteldeutschland allgemein erst im ausgehenden Hoch- und im Spätmittelalter in Gebrauch. Äußerst spannend sind daher Bruchstücke frühmittelalterlicher Dachziegel, die im Bereich der Pfalz Derenburg am Harz gefunden wurden (Abbildung 1).
Im Jahr 1991 konnte durch systematische Befliegungen des Landesamtes für Archäologie nordöstlich des Ortes Derenburg eine Burganlage entdeckt werden, bei der es sich dem Grundriss und der Lage nach um eine ottonische Pfalz, wie sie auch urkundlich für Derenburg bezeugt ist, handelt (Abbildung 2). Die Anlage befindet sich auf einem Geländesporn an der Holtemme, dessen Name Anisberg sich von einer nicht mehr vorhandenen Dionysius-Kirche herleitet. Wie negative Bewuchsmerkmale zu erkennen geben, besaß die Hauptburg eine ringförmige Steinmauer, die später durch eine Befestigung mit polygonalem Grundriss ersetzt wurde. An den Ecken des Mauerpolygons befanden circa fünf Meter starke Türme (Abbildung 3). Im Osten schlossen sich an die Hauptburg zwei Vorburgen an, deren Verteidigungsgräben als positive Bewuchsmerkmale deutlich hervortreten.
Um Klarheit über die Funktion und Datierung der Anlage auf dem Anisberg zu gewinnen, wurde im Sommer 2008 ein Suchschnitt im Bereich der Umfassungsmauern angelegt (Abbildung 2). Der Schnitt am südöstlichen Rand der Kernburg erbrachte eine unerwartete Dichte von Befunden in außergewöhnlich guter Erhaltung (Abbildung 4).
Am nordwestlichen Ende des Grabungsschnittes konnten Reste der inneren, ins 10. Jahrhundert zu stellenden Ringmauer erfasst werden. Ihr war ein circa 7,5 Meter breiter Spitzgraben vorgelagert. An den Graben schloss sich die äußere, wahrscheinlich ebenfalls noch im 10. Jahrhundert erbaute, polygonale Verteidigungsmauer an, die eine Breite von über zwei Meter aufwies (Abbildung 5).
Unmittelbar außerhalb des Verteidigungsringes der Hauptburg wurden umfangreiche Spuren der Vorburg-Besiedlung erfasst. In der kleinen untersuchten Fläche konnten sechs sich zum Teil überlagernde Grubenhäuser sowie Pfosten von ebenerdigen Gebäuden dokumentiert werden. Befunde und Funde zeugen von einer intensiven handwerklichen Nutzung; nachweisbar sind unter anderem Eisenverarbeitung und Textilherstellung. So hatte man auch die gefundenen Dachziegel-Bruchstücke in Zweitverwendung zum Verkeilen von Webstuhlpfosten eingesetzt (Abbildung 6). Einer ersten Funddurchsicht zufolge gehören die erfassten Siedlungsbefunde in das 10. und 11. Jahrhundert. Aus dem 12. bis 14. Jahrhundert stammen Bestattungen, die in die Verfüllung des Spitzgrabens eingetieft waren.
Das ostfränkische, »deutsche« Reich kannte im Mittelalter keine Hauptstadt. Stattdessen verfügten die Könige über eine Reihe von Pfalzen in verschiedenen Teilen des Reiches, von denen aus sie ihre Herrschaft ausübten. Die Königspfalzen waren Stätten herrschaftlicher Repräsentation und besaßen in der Regel aufwendige Steinbauten; neben einem Palas existierte immer auch eine Kirche. Gleichzeitig stellten die Pfalzorte wirtschaftliche Zentren dar.
Der urkundlichen Überlieferung zufolge gehörte die Pfalz Derenburg im 10. Jahrhundert zu den wichtigeren ostsächsischen Königspfalzen. Insbesondere von Otto dem Großen (936 bis 973) und von seinem Enkel Otto III. (984/994 bis 1002) wurde sie gerne besucht. Im Jahr 998 schließlich hielt die Äbtissin Mathilde von Quedlinburg, die von Otto III. während seines Italienzuges als Stellvertreterin in »Deutschland« eingesetzt worden war, einen Land- oder Reichstag in Derenburg ab. Ausschlaggebend dafür, dass Mathilde den »conventus« nicht in der nahe gelegenen, traditionsreichen Pfalz Quedlinburg abgehalten hat, könnte eine grundlegende Erneuerung der Anlage in Derenburg unter Otto III. gewesen sein. Es ist zu vermuten, dass die polygonale Ringmauer mit den Mauertürmen von Otto III. in Anlehnung an antike römische Stadtmauern errichtet wurde – Otto III., der sich auch auf dem Palatin in Rom eine neue Pfalz erbauen ließ, wurde bereits von seinen Zeitgenossen für seine Rom-Schwärmerei kritisiert. Die gefundenen Dachziegel, die stark an römische Leistenziegel erinnern, sind ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen und könnten von der Dacheindeckung eines unter Otto III. erbauten Kirchen- oder Palas-Gebäudes stammen.
Von den drei gefundenen größeren Dachziegel-Bruchstücken zeigt eines noch Teile einer Randleiste (Abbildung 1). Wahrscheinlich stammen die Stücke von großen Plattenziegeln, die wie römische »tegulae« an beiden Längsseiten Leisten besaßen (Abbildung 7). Die Stoßfugen mit den Leisten wurden bei den antiken Dächern von gewölbten Ziegeln, den »imbrices«(Singular »imbrex«), überdeckt. Die Nut unter der Leiste diente dazu, den Ziegel der nächsten unteren, leicht überdeckten Reihe passgenau zu fixieren. Dachdeckungen mit Leistenziegeln waren jedoch nur bei flachen Dachneigungen möglich (Abbildung 8), die für das Klima nördlich der Alpen nicht wirklich geeignet waren. In Deutschland haben sich daher seit dem Spätmittelalter andere Ziegelformen (Mönch- und Nonnenziegel, Krempziegel) durchgesetzt.
Zur zweifelsfreien Bestimmung des Ziegeltyps reichen die in Derenburg gefundenen Ziegelbruchstücke leider nicht aus. Eventuell hat es sich auch um »tegula«-Platten gehandelt, die nur an einer Seite eine Leiste aufwiesen. In jedem Fall geben die Ziegelfunde einen wichtigen Hinweis auf in antiker Tradition erbaute Repräsentationsgebäude im Kernburg-Bereich der frühmittelalterlichen Pfalz Derenburg.
Herrn Prof. R. Möller, Dresden, sei für seine ausführliche Expertise zu den Ziegelfunden aus Derenburg herzlich gedankt.
Text: Götz Alper, Andreas Siegl
Online-Redaktion: Tomoko Emmerling, Anja Lochner-Rechta
Literatur
D. Claude, Dornburg–Derenburg. Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung 3 (Göttingen 1979) 278–300.
G. Binding, Deutsche Königspfalzen von Karl dem Großen bis Friederich II. (765–1240) (Darmstadt 1996).
S. Hesse, Mittelalterliche Dachziegel aus Niedersachsen. Ein Überblick unter Berücksichtigung datierender Fundkomplexe im deutschen Sprachraum mit einem Exkurs zur frühen Muster- und Farbdeckung. Nachr. Niedersachsen Urgesch. 70, 2001, 251–281.
K. G. Beuckers/J. Cramer/M. Imhof (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte (Petersberg 2006).
R. Schwarz, Pilotstudien. Zwölf Jahre Luftbildarchäologie in Sachsen-Anhalt (Halle [Saale] 2003).