Bann des Bösen - Ein vergoldeter Anhänger zum Schutz gegen unheilvolle Kräfte
Juli 2019
Im Jahr 2017 führte Otto Möbius, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Oberflächenbegehungen auf einem Höhenzug am Niederungsrand der Elbe bei Lübs im Jerichower Land durch. Dabei konnte er eine Schmuckscheibemit romanischer Durchbruchzier bergen(Abbildung 1). Daneben fanden sich unter anderem Gürtelschnallen, diverse Beschläge, mehrere Spinnwirtel und eine größere Anzahl an Gefäßbruchstücken aus grauer Irdenware ein. Sie verweisen darauf, dass es sich beim Fundplatz um ein wüst gefallenes mittelalterliches Dorf handelt, das sich bislang jedoch namentlich nicht eindeutig identifizieren lässt.
Die Zierscheibe hat einen Durchmesser von 3,4 Zentimeter und besteht aus Buntmetall mit vergoldeter Schauseite. Die Durchbruchzier wurde durch Ausschneide- und Treibarbeitenhergestellt. EineHängevorrichtung ist nicht vorhanden bzw. abgebrochen.
Dargestellt ist ein im Kreis gefasstes, nach rechts schreitendes, vogelartiges Fabelwesen mit zwei tatzenförmigen Füßen und nach hinten geworfenem Kopf. Auge, Flügel und Zehen sind durch Gravuren angedeutet, die die plastische Wirkung der einzelnen, leicht gewölbten Teile verstärken. Daneben zeigt sich schlichtes und reduziertes Rankenwerk. Vom umlaufenden durch Korrosion beschädigten, schmalen, mit Strichgruppen verzierten Reifen aus legt sich eine Schlinge um den Hals des sich windenden Geschöpfs, eine andere ergreift die Schwanzpartie. Ähnliche Motive sind aus dem Hochmittelalter vielfach bekannt und waren etwa auf Spielsteinen, Möbeln, Kleidungsstücken oder an Bauwerken angebracht (Abbildung 2). Die zweifüßigen Fabelwesen galten als Drachen. Sie waren Sinnbild des Bösen, das durch die sie umfassenden undumschlingenden Ranken gebannt werden sollte. In der Neoromanik des 19. Jahrhunderts erlebte das Motiv ein Revival, diesmal aber weniger zur Abwehr von Dämonen als vielmehr als reiche Bauzierde. So etwa am Postamtan der Ecke Hansering 19 / Große Steinstraße 72 in Halle (Saale), welches zwischen 1892 und 1896 als »Kaiserliche Oberpostdirektion« errichtet wurde (Abbildung 3).
Aus stilistischen Erwägungen heraus und über näher datierte Vergleichsfunde lässt sich eine zeitliche Eingrenzung der Zierscheibe von Lübs auf das 12./13. Jahrhundert vornehmen. Ein Verbreitungsschwerpunkt der Zierscheiben mit romanischer Durchbruchzier liegt im Harzraum(Abbildung 4). Da dortder Lübser Schmuckscheibe sehr ähnliche Exemplare gefunden wurden, wie beispielsweise auf der Elendsburg bei Schierke,ist in dieser Region auch der Produktionsort unseres Stücks zu vermuten.
Buchillustrationen, Ritteraquamanilen und überliefertes Zaumzeug belegen, dass durchbrochene Zierscheiben, wie die von Lübs, als Pferdegeschirrbestandteile fungierten. Sie waren meist am Brust-, Kopf- oder Schweifgeschirr befestigt. Neben der ihnen zugeschriebenen unheilabwehrenden Wirkung, dienten sie sicherlich auch dem sozialen Repräsentationsbedürfnis des Besitzers eines wertvollen Reitpferdes. Ob der anzunehmende Reiter aus dem gehobenen Stand im niedergelegten Dorf bei Lübs ansässig war, bleibt indes ungeklärt. Vielleicht hat er die vergoldete Scheibe auchbeim Durchreisen des Ortes mit dem schnellsten Verkehrsmittel des Mittelalters verloren.
Text: Donat Wehner
Online-Redaktion: Imke Westhausen, Anja Lochner-Rechta
Literatur
N. Goßler, Reiter und Ritter. Formenkunde, Chronologie, Verwendung und gesellschaftliche Bedeutung des mittelalterlichen Reitzubehörs aus Deutschland. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns 49 (Schwerin 2011).
S. Krabath, Die hoch- und spätmittelalterlichen Buntmetallfunde nördlich der Alpen. Eine archäologisch-kunsthistorische Untersuchung zu ihrer Herstellungstechnik, funktionalen und zeitlichen Bestimmung (Rahden 2001).
A. Muhl, Pferdegeschirranhänger mit Vogelmenschmotiv. In: M. Puhle (Hrsg.), Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom und die späte Stauferzeit (Mainz/Magdeburg 2009) 491.
A. Muhl, Pferdegeschirrhänger mit Sphinxmotiv. In: M. Puhle (Hrsg.), Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom und die späte Stauferzeit (Mainz/Magdeburg 2009), 492.