Totenkronen aus Sachsen-Anhalts Norden
Juni 2021
Jahrhundertelang war es üblich, jungen und ledigen Verstorbenen beiderlei Geschlechts eine Totenkrone mit ins Grab zu geben. Als (Braut-)Sträuße und (Braut-)Kronen symbolisierten sie die Himmelshochzeit, da diesen Toten eine Vermählung auf Erden verwehrt blieb.
Der Brauch basiert auf der in vielen Kulturen der Welt praktizierten Totenhochzeit und erscheint am Beginn der frühen Neuzeit in Europa als Variante beider christlicher Konfessionen.
Archäologisch lässt sich diese Sitte im Norden Sachsen-Anhalts bislang vom 17. bis ins 19. Jahrhundert fassen. Die aus filigranen Bestandteilen gefertigten Totenkronen haben die Zeiten im Boden nur als sehr kleinteilige Fragmente überdauert. Als geringe oxidierte Kupfer- und korrodierte Eisenreste, sogenannte leonische Drähte, beziehungsweise (Glas-)Perlen nur schlecht erkennbar, bedürfen sie dem geschulten Auge der Archäologen wie das nachfolgende Beispiel zeigt. Das Auffinden kleinstteiliger Fragmente bestätigte zum Beispiel ein mit Totenkrone beigesetzter Säugling, der 2011 bei der archäologischen Begleitung von Medienverlegungen auf dem Stendaler Winckelmannplatz entdeckt wurde (Abbildung 1). Dort lag ehemals der Marienkirchhof.
Bei einer archäologischen Untersuchung im Chorraum der romanischen Kirche in Meßdorf (Landkreis Stendal) kamen 1981 unter anderem mehrere Grablegen zutage. Einer der Toten, es waren noch Reste einer Perücke und des Bartes zu erkennen, trug eine Totenkrone in Form eines Kranzes (Abbildung 2). Das Männergrab konnte der Pfarrerfamilie von der Hude zugeordnet und in den Verlauf des 17. Jahrhunderts datiert werden.
Zu nennen ist in diesem Kontext der Fund einer Totenkrone aus Grab 27 des Friedhofs im Umfeld des Havelberger Doms (Landkreis Stendal) im Winter 1998/99. Neben Haarresten gelang dabei die Sicherstellung von Metallfäden und Beeren, wovon eine auf einer Stecknadel befestigt war.
Eine Totenkrone in Form eines stilisierten Blumenstraußes aus dem 18. Jahrhundert fanden Archäologen 2012 in einem Frauengrab in Jerichow (Landkreis Stendal; Abbildungen 3a und 3b). Im Zuge der Neugestaltung des Klosterumfelds kam es zur Entdeckung des Friedhofs am Kloster. Ein Mädchen, das im Alter von circa 15 Jahren verstarb, war mit einer Art Totenkrone beigesetzt worden. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Strauß um den Bestandteil einer Haube oder eines Tuches, die als Kopfbedeckung für das Mädchen gedient haben könnte. Dafür spricht auch eine Stecknadel am Hinterkopf. Mit dieser wurde ein Schleier oder ein Tuch im Haar festgesteckt. Der rekonstruierte Totenschmuck vermittelt einen Eindruck der einstigen Farbigkeit.
Die im Jahr 2018 während einer baubegleitenden Ausgrabung in der Tangermünder Grete-Minde-Straße (Landkreis Stendal) geborgenen Fragmente von Totenkronen stammen aus einem vom 17. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegten städtischen Friedhof. Sie waren in der Sonderausstellung »Was nach dem Tod noch bleibt« des Burgmuseums Tangermünde zu sehen. Hier bestanden die entsprechenden Kronenfragmente vor allem aus bronzenen Spiralröllchen und Eisendrähten sowie Glasperlen, die als Überreste des Schmuckes lediger Verstorbener geborgen werden konnten (Abbildung 4).
Im Zuge von Sanierungsmaßnahmen in der Salzwedeler Marienkirche (Altmarkkreis Salzwedel) kam es zur Beräumung einer mittlerweile seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Beinhaus genutzten Grabstätte. Ein Totenkranz lag auch in einem Kindersarg eines auf Rosmarin gebetteten Kleinkindes, das in der Familiengruft des Bürgermeisters Joachim Rademacher (1636 bis 1714) bestattet worden war. Der im Herbst 1981 darin entdeckte Kleinkindsarg war farbig bemalt und mit einem satteldachförmigen Deckel verschlossen. Beim Öffnen zeigte sich, dass er mit einem hellen Stoff, wohl Seide, ausgeschlagen war. Das Kind trug ein weißes Kleid mit blauen Schleifen und einen kleinen Kranz, wohl Myrte, über einer Haube und hielt ein Sträußchen unter den zusammengelegten Händen. Vermutlich handelte es sich um einen Sohn des Bürgermeisters Joachim Rademacher. Der Befund verblieb, da er kurze Zeit nach Öffnung stets fortschreitend zerfiel, vor Ort und wurde 1999 mit den anderen Gebeinen der Gruft wiederbestattet. Ähnliche Befunde beigesetzter Kleinkinder sind unlängst aus einer Kirchengruft in Hohenwulsch (Landkreis Stendal) bekannt geworden.
Unbekannt ist, ob sich alle Hinterbliebenen jener jung Verstorbenen ein solches Gedenken mit Kronen überhaupt leisten konnten, denn auf denselben Friedhöfen kamen sowohl Gräber junger Menschen mit als auch ohne Kronenschmuck zutage. Bei Letzteren sind organische Materialien für die Kränze oder Kronen wahrscheinlich. Vermutlich griffen Familien aus unteren sozialen Schichten auf natürliche Pflanzen zurück, da sie sich solche aus künstlichen Materialien nicht leisten konnten.
Soziale Unterschiede bei Praktizierung des Totenkronenbrauchs werden bereits im 16. Jahrhundert offenbar, da die elitäre Bevölkerung (Patriziat und Niederadel) ihre ledig Verstorbenen seinerzeit auf Figurengrabsteinen oder auf Epitaphen mit den Sinnbildern Kranz und Strauß abbildete (Abbildung 5).
Ab dem 18. Jahrhundert stellten die Hinterbliebenen aller Bevölkerungsschichten Kronen und Kränze als Erinnerungsmale für die jungen ledigen Toten zusätzlich auf Borden und in Schaukästen in den Kirchen aus, meist durch Inschriften oder Schrifttafeln ergänzt (Abbildung 6). Bereits vor 1900 und bis in die jüngste Zeit verschwanden die meisten dieser Objekte. Der Brauch geriet nahezu vollständig in Vergessenheit.
Heute sind die Realien des Totenkronenbrauchs wertvolle Sachzeugen einer vergangenen Erinnerungskultur. Seinerzeit waren sie elterlicher Trost bei den vielen Sterbefällen der Kinder und jungen Menschen. Denn die Sterberaten des 18./19. Jahrhunderts lagen in Deutschland bei 60 Prozent für Kinder und Jugendliche und für das erste Lebensjahr des gleichen Zeitraums bei 35 Prozent der Säuglinge.
Text: Rosemarie Leineweber
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta
Literatur
I. Brandt, Ein Schädel mit Brautschmuck aus dem 18. Jh. vom Friedhof des Klosters Jerichow. Restaurierungsdokumentation Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Halle (Saale) (unveröffentlichtes Manuskript 2012).
K. Lehrmann/W. Schmidt, Die Altmark und ihre Bewohner. Beiträge zur altmärkischen Volkskunde II (Stendal1912).
R. C. E. Leineweber/D. Fettback, Diese Krone weihten tief betrübte Eltern. Der Totenkronenbrauch und seine Sachzeugen in Altmark und Elb-Havel-Winkel – ein fast vergessenes Gedenken (Hamburg 2021).
U. Lenz /H. Müller, Grabungen und Funde im Chorraum der romanischen Dorfkirche zu Meßdorf, Krs. Osterburg/Altmark in den Jahren 1980–1982. Archäologische Informationen aus der Altmark 3, 1992, 79–82.