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Ein Griffel aus der Schreibstube des versunkenen Klosters Kaltenborn

Mai 2023

Anfang 2023 prospektierte Thomas Rymer, ehrenamtlicher Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, das Areal des im 16. Jahrhundert untergegangenen Klosters Kaltenborn bei Emseloh (Ortsteil von Allstedt, Landkreis Mansfeld-Südharz) mit dem Metalldetektor. Unter etlichen interessanten Funden – Münzen, Buchbeschläge, Gürtelschnallen, Schmuckstücke, eine Waage und Ähnlichem – ragt ein schön verzierter Schreibgriffel aus Buntmetall hervor (Abbildung 1): ein mittelalterlicher Stilus der Harzer Gruppe. Das Stück ist nicht nur interessant, weil sein Auffindungskontext Hinweise zur durchaus umstrittenen Funktion dieses Sachguts gibt, sondern es ist auch Zeugnis einer einstmals überaus bedeutenden, heute jedoch weitgehend vergessenen monastischen Niederlassung an der südöstlichen Abdachung des Harzes.

Der 14 Zentimeter lange, bis zu 4,4 Zentimeter starke, rundstabige und spitz zulaufende Stilus ist an seinem Kopfende reich verziert: Er läuft in einer zur Faust geballten, sorgfältig ausgearbeiteten Hand aus, die eine Öse für einen nicht mehr vorhandenen Ring bildete (Abbildungen 2 und 3). Auf diese Weise konnte das Utensil am Gürtel befestigt werden. Darunter befinden sich zwei durch kantig ausgeprägte Wülste voneinander abgegrenzte, länglich-kubooktaederförmige Facettenquader, die auf allen vier Seiten eingeritzten und gefeilten Liniendekor in der Art gerahmter Andreaskreuze aufweisen (Abbildungen 4 und 5). Die vierkantige, kräftig profilierte und geritzte Zone diente nicht nur der Zier, sondern auch als griffige und stabile Handhabe. Das Fundstück ist gut erhalten und war vor der Restaurierung lediglich durch Korrosion verkrustet. Allerdings ist es stark verbogen – vermutlich das Resultat der Begegnung mit einer Pflugschar, denn es stammt aus dem Ackerhumus im Bereich der Klosterstätte.

Der Griffel besteht im Ergebnis einer Laserinduzierten Plasmaspektroskopie (LIBS) aus einer Buntmetallmischung mit Kupfer als Hauptelement und den Legierungszusätzen Zinn, Zink und Blei (Tabelle 1). Derartige Mischlegierungen, bei denen offenbar Rohmessing – hüttenfrisch oder aus Altmetall – als Zuschlag verwendet wurde, sind im Mittelalter nicht unüblich. Messing vermochte man damals noch nicht durch Zusammenschmelzen der Legierungsbestandteile Kupfer und Zink zu erzeugen, denn Zink als reines Metall war nicht verfügbar. Stattdessen wandte man ein Zementationsverfahren an: Kupferbleche wurden zusammen mit Kohle und dem Zinkerz Galmei in verschlossenen Tiegeln auf bis zu 1000 Grad Celsius erhitzt. Es entstand dampfförmiges Zink, das in die Kupferbleche eindiffundierte. Die so erzeugten Rohmessingstücke enthielten bis zu 20 Prozent Zink.

Exkurs: Laserinduzierte Plasmaspektroskopie (LIBS)

Die Metallzusammensetzung des Griffels wurde mit Hilfe der LIBS semiquantitativ bestimmt. Die Analyse ist nicht ganz präzise, da sie nur an einer sehr kleinen freigelegten Stelle auf der Oberfläche des Griffels durchgeführt wurde. Der Messfleck wurde zehnmal mit einem Laserstrahl beschossen, um eine geringe Menge Material zu verdampfen. Das dadurch erzeugte Plasma sendet Atomemissionslinien aus, anhand derer die Elementarzusammensetzung ermittelt wird. Bei jedem Beschuss wurden nur wenige Mikrometer des Materials von der Oberfläche abgetragen. Der Brennfleck hatte einen Durchmesser von etwa 25 Mikrometern.

Die Einzelmessungen sind nicht immer vollkommen repräsentativ für das Gesamtobjekt. Bei der Bodenlagerung von Buntmetall können Legierungsbestandteile an der Oberfläche an- und abgereichert werden, und während der Herstellung des Objektes können ebenfalls Inhomogenitäten entstehen. Zum Beispiel treten bei bleihaltigen Legierungen bereits beim Gießen Seigerungs- beziehungsweise Entmischungseffekte auf, bei denen sich während des Erstarrungsvorgangs kleine Bleitröpfchen im Material absetzen. Die stark variierenden Bleigehalte in den zehn Einzelmessungen in der Tabelle sind darauf zurückzuführen.  

Der Zusatz von Messing (Kupfer-Zink-Legierung) zur Zinnbronze ergibt ein leuchtend goldgelbes Erscheinungsbild des Metalls. Blei bewirkt nicht nur, dass sich das Material besser gießen lässt, sondern erleichtert auch die mechanische Nachbearbeitung.
Wie die Werkzeugspuren verdeutlichen, ist das Griffel-Gussstück erst durch aufwändiges Schmieden, Feilen und Schleifen in Form gebracht worden. Geschickt hat der Handwerker die handförmige Öse erzeugt. Dafür hat er das Ende des Griffels spatelförmig ausgeschmiedet oder abgeschliffen und die Spitze anschließend halbseitig weggefeilt, so dass aus dem verbliebenen Teil nach Umbiegen des Endes zur Öse der Daumen wurde. Anschließend wurden die Kerben zwischen den Fingern ausgefeilt (Abbildung 6). Dass der Daumen wegen dieses handwerklichen Kunstgriffs durch eine Kerbe von der Handwurzel getrennt ist, fällt dem Betrachter erst beim zweiten Hinsehen auf. Unter dem Digitalmikroskop sind die Spuren der Flach- und Kerbfeilen gut zu erkennen (Abbildung 7). Auch der Abschnitt mit den kubooktaedrischen Zierformen und den Andreaskreuzmotiven wurde aus einem ursprünglich vierkantigen Stabprofil herausgefeilt, wie man unter dem Mikroskop erkennen kann (Abbildung 8). Dabei unterliefen dem Handwerker gelegentlich kleine Fehler. So ist der Schrägbalken eines Andreaskreuzes falsch positioniert und daher nicht zu Ende geführt worden; die Unzulänglichkeit wurde aber souverän durch eine versetzte zweite Kerbe ausgeglichen.

Nach seinen formalen Eigenschaften ist der Fund den Griffeln der sog. Harzer Gruppe (Typ 2b) nach V. Schimpff zuzuordnen, die in größeren Teilen Mittel- und Nordeuropas während des 12. und 13. Jahrhunderts verbreitet waren und einen Fundschwerpunkt im Harzraum aufweisen. Sie wurden wohl auch in regionalen Werkstätten erzeugt. Die Neuentdeckung passt insofern sehr gut ins Fundbild und besitzt nahegelegene Parallelen zum Beispiel vom Kyffhäuser, aus Roßla, Magdeburg, Wernigerode und Erfurt. Über ihre Funktion gibt es eine kontroverse Diskussion: Der Deutung als Schreibgerät, mit dem man in einer hölzernen und mit Wachs belegten Tafel Notizen vermerken konnte, steht jene als Nadel gegenüber, die zum Feststecken der Kleidung oder der Frisur gedient haben soll. Das Hauptargument für die Verwendung als Gewandnadel respektive Haarpfeil ist der Sachverhalt, dass die hier besprochenen Werkzeuge keine spatel- oder T-förmigen Verbreiterungen am Ende besitzen, die ein Glätten des Wachses beziehungsweise Löschen oder Korrigieren der Schrift ermöglichen würden. Die anderweitigen, oft beinernen Griffeltypen des Mittelalters weisen in der Regel solche Vorrichtungen auf. Letztlich hat die Griffeldeutung aber mehr für sich als jene als Nadel, denn der profilierte obere Abschnitt des Utensils, so hat T. Lüdecke plausibel herausgearbeitet, schließt eine Verwendung in Stoff oder Haar weitgehend aus: Der verdickte und scharfkantige Wulst würde zu Verschleißeffekten an Textilien führen, zu hoch aus der Frisur ragen und Reibung, Schürfung oder gar Verletzung am Körper verursachen. Zudem weisen manche Vertreter der Harzer Gruppe Abriebspuren auf, die von ihrem Einsatz beim Glätten des gemeinhin mit Asche versetzten Wachsauftrags der Schreibtafeln künden.

Diese Funktionszuweisung bestätigt der Kaltenborner Fund zumindest in allgemeiner Form, da in einem Kloster wenig Bedarf an Gewand- und schon gar nicht an Haarnadeln bestand; umso wichtiger war dort hingegen Schreibgerät, das sich für die Aufzeichnung von Notizen, Mitteilungen kurzfristiger Gültigkeit und anderweitige Textnachrichten eignete. Ein Kloster war bekanntlich nicht nur ein religiös-sakraler Ort, sondern auch ein großer Guts- und Wirtschaftsbetrieb mit Verwaltungstätigkeit und Handelsgeschehen. Dies war gemeinhin die Domäne von Griffeln und Wachstafeln. Zudem mag es eine Schule beim Kloster gegeben haben.

Das Augustinerchorherrenstift Kaltenborn war 1118 an der Stelle eines älteren gräflichen Hofes gegründet worden. Stifter war Graf Wichmann, der Ehemann von Kunigunde, Tochter des berühmten Ludowingers Ludwig des Springers. 1126 wurde die Neugründung von Papst Honorius II., zehn Jahre später von Kaiser Lothar von Süpplingenburg bestätigt. Vom thüringisch-sächsischen Hochadel begünstigt und mit Schenkungen reich bedacht, entwickelte sich Kaltenborn, benannt nach einem klaren Quellbrunnen in einem nahen Taleinschnitt des Hornburger Sattels, während des hohen und späten Mittelalters zu einem der wohlhabendsten Klöster der Region; weitläufiger Grundbesitz, Zins- und Zehntrechte, Eigentum an Kirchen, Mühlen und Weinbergen verschafften ihm im Verbund mit geschickter Wirtschafts- und Erwerbungspolitik großen Einfluss und hohes Ansehen.

Der Wohlstand und die Macht des Klosters sowie seine energische Abgabenerhebung erweckten aber auch Unmut in der betroffenen Bevölkerung – schon im mittleren 15. Jahrhunderts ist die Verweigerung von Abgaben durch Kaltenborner Untertanen überliefert. Als der Bauernkrieg in Mitteldeutschland ausbrach, traf das Augustinerkloster der aufgestaute Groll der Unterdrückten: Im April 1525 wurde es von Aufständischen aus den nahen Dörfern Riestedt und Emseloh geplündert und verwüstet. Viele Konventualen flohen und kehrten nicht zurück. Davon erholte sich das Stift nicht mehr. Bis zur endgültigen Aufhebung im Jahre 1538 – mit zuletzt lediglich drei verbliebenen Chorherren – führte es nur noch ein Schattendasein. Später trug man Kirche, Klausur und sämtliche anderen Baulichkeiten so gründlich ab, dass heute nur noch Trümmerreste in einem Waldstück südwestlich Emselohs an die einstmals prächtige Abtei erinnern (Abbildungen 9 und 10). Der Stilus der Harzer Gruppe, der aus der Blütezeit des Konventes im 12. und 13. Jahrhundert stammt, wirft mithin ein Schlaglicht auf einen bedeutenden, heute jedoch ganz aus der Kulturlandschaft verschwundenen Schauplatz mitteldeutscher Geschichte.
 

Text: Felix Biermann, Christian-Heinrich Wunderlich
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

Literatur

F. Biermann, Schreibutensilien des spätmittelalterlichen Kaufmanns. In: H. Jöns/F. Lüth/H. Schäfer (Hrsg.), Archäologie unter dem Straßenpflaster. 15 Jahre Stadtkernarchäologie in Mecklenburg-Vorpommern. Ausstellungskat. (Schwerin 2005) 91–94.

K. Bogumil, Das Bistum Halberstadt im 12. Jahrhundert. Studien zur Reichs- und Reformpolitik des Bischofs Reinhard und zum Wirken der Augustiner-Chorherren. Mitteldt. Forsch. 69 (Köln/Wien 1972).

T. Lüdecke, Für den Frisiertisch nicht geeignet. Die mittelalterlichen Schreibgriffel mit Aufhängeöse und die Fehldeutung als Haarnadeln. Mitt. Dt. Ges. Arch. Mittelalter u. Neuzeit 25, 2013, 203–216.

K. Rathgen, Untersuchungen zur Funktion der Buntmetallnadeln der ›Harzer Gruppe‹. Nachr. Niedersachsens Urgesch. 75, 2006, 173–221.

V. Schimpff, Zu einer Gruppe hochmittelalterlicher Schreibgriffel. Alt-Thüringen 18, 1983, 213–260.

F. Schmidt, Geschichte des Klosters Kaltenborn, des Dorfes Emseloh und des Rittergutes Kaltenborn. Mitt. Ver. Gesch. u. Naturwiss. Sangerhausen u. Umgebung 10, 1914, 1–139. 

O. Werner, Analysen mittelalterlicher Bronzen und Messinge. Berliner Beitr. Archäometrie 7, 1982, 35–174.

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