Eine Urne kehrt heim
Februar 2024
Im August 2023 kam bei einem großen süddeutschen Internet-Auktionshaus für Kunst und Antiquitäten ein Tongefäß zum Aufruf, das als ›Vase Mittelalter‹ klassifiziert worden war. Die beigefügten Fotos ergaben nicht nur ein deutlich höheres Alter, sondern auch eine überraschende Provenienz: Auf der Unterseite des Behältnisses war ein Zettel mit dem handschriftlichen Vermerk ›Kohlenwerk Dreierhaus‹ aufgeleimt, offensichtlich in den Jahrzehnten um 1900.
Eine Braunkohlengrube mit diesem Namen gab es seit dem 19. Jahrhundert bei Osendorf (Radewell/Osendorf, Ortsteil von Ammendorf, Stadt Halle [Saale]). Anscheinend war hier ein archäologischer Fund aus Sachsen-Anhalt nach langem Privatbesitz in den überregionalen Handel gelangt. Daraufhin wurde das Stück auf privatem Wege für einen geringen zweistelligen Betrag mit der Absicht ersteigert, es für das Kulturerbe des Landes Sachsen-Anhalt zu sichern. Das Gefäß ist mittlerweile als Schenkung in die Sammlung des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt aufgenommen worden.
Es handelt sich um einen weitgehend vollständigen kleinen Topf von 11,9 Zentimeter Höhe, 9,4 Zentimeter Rand- und 5,3 Zentimeter Bodendurchmesser (Abbildungen 1 und 2). Er ist hochschultrig, der Umbruch (etwas variierend) recht scharf bis bauchig ausgeprägt, der ausgebogene Rand kantig facettiert. Das Gefäßunterteil ist konkav eingezogen, so dass die Gestalt insgesamt einer Situla ähnelt. Einziger Dekor ist eine um das Gefäß laufende Rille auf der Schulter. Das Behältnis ist unregelmäßig braungrau gebrannt, wobei sich bei der fleckigen Färbung auch sekundäre Einflüsse bemerkbar machen; an einigen Partien haftet feines braun-lehmiges Substrat als Zeugnis der fast zweitausendjährigen Bodenlagerung.
Der Ton ist fein bis mittel mit Sand gemagert und sorgfältig geglättet beziehungsweise poliert, wobei die glänzende Oberfläche wiederum durch Korrosion partiell stumpf erscheint. Das Behältnis ist handgemacht. Abgesehen von Randausbrüchen und Sprüngen – wohl Beschädigungen bei der Bergung – ist es komplett.
Als kontextloser Einzelfund ist der Topf anhand seiner technischen und formalen Eigenschaften einzuordnen: Er ist elbgermanisch und entstammt der frühen römischen Kaiserzeit beziehungsweise dem 1. Jahrhundert nach Christus (Eggers Stufe B 1, vielleicht noch frühe Stufe B 2).
Vergleichbare Gefäße sind beispielsweise von den nahen Gräberfeldern von Bornitz bei Zeitz und Schkopau bekannt geworden. Auch die vollständige, für Siedlungsfunde ungewöhnliche Überlieferung spricht für ein Grabgefäß – es ist wohl die Urne einer der in jener Zeit und Kultur vorherrschenden Brandbestattungen. Die geringe Größe könnte auf die Verwendung für den Leichenbrand eines Kindes hinweisen. Denkbar wäre auch, dass es sich um das Beigefäß einer Körperbestattung handelte, wie sie damals bei elitären Grablegen ebenfalls manchmal zur Anwendung kam – zum Beispiel beim bekannten ›Adelsgrab‹ von Quetzdölsdorf, aber auch bei Bestattungen im Osendorf benachbarten Döllnitz. Gewissheit ist hier aber nicht mehr zu erzielen, denn die einzige Information zum Fundkontext liefert der aufgeklebte Zettel: ›Kohlenwerk Dreierhaus‹ (Abbildung 3).
Das Dreierhaus war eine Zollstation (benannt wohl nach den dort zu entrichtenden Dreipfenniggroschen), ein Wohnplatz und Gasthaus an der alten Salzkärrnerstraße nordöstlich von Osendorf, das bereits auf der Schmettauschen Karte (1767 bis 1787) vermerkt ist und dessen Gebäude erst nach 1989 abgerissen wurden. Nordöstlich davon befand sich spätestens seit den 1840er Jahren ein zunächst untertage betriebenes Braunkohlenbergwerk namens ›Neptun‹, das 1859 unter anderem mit dem Bergwerk ›Theodor‹ bei Ammendorf zum Tagebau ›Von der Heydt‹ fusionierte. Seit den 1850er Jahren förderte auch die Grube ›Hermine Henriette‹ (I) beim Osendorfer Dreierhaus Braunkohle im Tief- und Tagebau. Die anfangs beschränkte Abbaufläche, auf dem Preußischen Urmesstischblatt (um 1840/50) bereits sichtbar, expandierte naturgemäß in der Folgezeit rapide (Abbildung 4 bis 6). In den 1920er Jahren wurde ›Hermine Henriette I‹ mit ›Von der Heydt‹ zu einem Großtagebau zusammengelegt, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Braunkohle unter anderem für die Leuna-Werke lieferte. Das Tagebau-Restloch bildet heute den Osendorfer See (Abbildung 7).
Wohl auch, weil sich das Tagebaufeld nordöstlich Osendorfs sehr dynamisch veränderte und verschiedene ursprünglich eigenständige Gruben vereinte, blieb die Bezeichnung ›am Dreierhaus‹ auch noch im frühen 20. Jahrhundert als Sammelbegriff üblich – 1905 etwa gelangte das ›Braunkohlenwerk Dreierhaus‹ an den hallischen Fabrikanten F. Krocket, und noch 1926 gab es dort eine so benannte Braunkohle-Gewerkschaft. Insbesondere im späten 19. Jahrhundert firmierte wenigstens ein Tagebau hier auch als ›Dreierhaus‹, wie ein Dankesschreiben von 1889 in den Ortsakten des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt für zwei »alte Urnen […] am nördlichen Rande der Braunkohlengrube Dreierhaus in der obersten Braunkohleschicht« an den Finder, Obersteiger Oppermann, belegt (Abbildung 8).
Etliche weitere Fundmeldungen in den Ortsakten nehmen auf diese Örtlichkeit Bezug, so zu einer wohl bronzezeitlichen Urne aus »der Kohlengrube Neptun bei Ammendorf am Dreierhaus« (1883) (Abbildung 9), oder zu zwei bronzenen Spiralringen erneut als »Geschenk des Obersteigers Oppermann, Dreierhaus« (1890). Die Ortsakte enthält ungewöhnlich viele Nachrichten über private Funde aus Osendorf, die das Provinzialmuseum und die nachfolgenden archäologischen Fachbehörden per Schenkung oder Ankauf erhielten – ein nicht überraschender Sachverhalt beim rasanten Wachstum ungeheurer Tagebaufelder in einer alten Kulturregion ohne systematische archäologische Betreuung. Die vorliegenden oder zumindest in den Akten dokumentierten Einzelfunde sind lediglich kümmerlicher Abglanz einer ansonsten weithin zerstörten archäologischen Fundlandschaft.
Die guten Böden sowie die Saale und die Weiße Elster als Kommunikationsachsen verliehen dem Kleinraum um Osendorf-Radewell, namentlich den Terrassen oberhalb des Flüsschens Reide am Dreierhaus, große Siedlungsgunst, was sich in Funden und Fundplätzen aus allen Epochen äußert. Vom Dreierhaus beziehungsweise aus der Grube ›Hermine-Henriette I‹ sind beispielsweise ein bronzezeitlicher Hortfund, eine Buntmetall-Armbrustfibel der Römischen Kaiserzeit, diverse mittelalterliche Funde und mehrere Tongefäße beziehungsweise deren Fragmente aus verschiedenen vor- und frühgeschichtlichen Epochen aktenkundig geworden, darunter solche aus völkerwanderungszeitlichen Brandgräbern. Bei einer Notbergung in Osendorf selbst wurden im Jahre 1906 ansehnlich ausgestattete merowingerzeitliche Bestattungen freigelegt – Hinweis auf eine während des Thüringerreichs bedeutende Siedlungskammer.
Der hier vorgestellte Topf gehört in eine frühere Epoche, in der sich am östlichen Saaleufer die Siedlungsgefilde der elbgermanischen Hermunduren erstreckten. Diese bildeten unter ihrem vom römischen Geschichtsschreiber Publius Cornelius Tacitus als König bezeichneten Anführer einen vom Gefolgschaftswesen geprägten Stammes- und Herrschaftsverband. Im Jahre 58 nach Christus rangen sie, so berichtet derselbe Autor, mit den benachbarten Chatten um einen zur Salzgewinnung geeigneten Fluss, was immer wieder auf die Solevorkommen im Raum Halle bezogen worden ist.
Unser kleiner Internet-Fund trägt zur großen Geschichte natürlich nur noch wenig bei, ergänzt aber doch unsere Kenntnisse über die elbgermanische Besiedlungsgeschichte in der Liebenau genannten Kleinregion südöstlich Halles. Vielleicht bilden die verschiedenen germanischen Funde Indizien für ein zerstörtes Gräberfeld, das von der frühen römischen Kaiser- bis in die Völkerwanderungszeit genutzt wurde. Freilich ist es ungewiss, ob die entsprechenden Einzelfunde zusammengehörten. Im gut zwei mal drei Kilometer großen Tagebaufeld zwischen Osendorf und Dieskau ist – wie gesagt – mit vielen spurlos verlorenen Denkmalen zu rechnen.
Wann der Topf genau im Tagebauareal am Dreierhaus ans Tageslicht gelangte, ist nicht zu sagen. Für die Zeit um 1880/90 spricht der Sachverhalt, dass man in dieser Zeitspanne mehrere andere Realien mit diesem Fundortnachweis ins Provinzialmuseum einlieferte. Der Stil der Beschriftung – mit Tusche, in lateinischer Schreibschrift – könnte auf eine etwas spätere Zeit hindeuten, wenngleich diese Schreibweise auch schon im 19. Jahrhundert neben der Kurrent gängig war. Als Fundzettel nutzte man den Bogenrand eines Briefmarkenblocks mit Strichelleiste und Zähnung, was aber zur präziseren Datierung nicht beiträgt. Immerhin legt es nahe, dass der Fundnachweis von privater Seite erfolgte, und zwar etwas behelfsmäßig auf einem bei Büroarbeiten anfallenden Papierrest. Zugleich kannte sich die Person vor Ort aus, denn ihr genügte die Beschriftung ›Kohlenwerk [=Braunkohlengrube] Dreierhaus‹ ohne Gemarkungsangabe zur Orientierung. Als Fundort kommen die Zechen ›Dreierhaus‹, ›Neptun‹ oder ›Hermine-Henriette‹ (I) gleichermaßen in Frage – die kaum präzise lokalisierbaren Zufallsfunde aus diesem Terrain sind im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt heute unter Fundstelle 29 eingeordnet.
Ein Werksarbeiter hat die Urne geborgen und er selbst oder eine andere Person, die sich für Zeugen der Vergangenheit interessierte, hat sie aufbewahrt. Das haben dann auch die Erben so gehalten. Die Geschicke des Fundes in den letzten Jahrzehnten, zwischen seiner Auffindung wohl um 1900 und der Versteigerung in Süddeutschland 2023, liegen im Dunkeln. Wir dürfen dankbar sein, dass das Gefäß damals einen Fundzettel erhalten hat und für so lange Zeit getreulich aufbewahrt worden ist. Die Einreichung zur Auktion im Internet war hingegen nicht beispielgebend. Archäologische Funde sollten vielmehr – und darauf weist der Fall erneut hin – stets bei den zuständigen Behörden abgegeben werden, damit ihre kulturhistorische Aussagekraft erschlossen und vor allem auch für immer bewahrt werden kann.
Dank gilt Prof. Dr. habil. M. Becker, B. Dittrich und Dr. R. Schwarz (alle Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt), Dr. K. Frey (Prenzlau) und Dr. M. Hegewisch (Berlin) für Hinweise zum Gefäß und zum Text.
Text: Felix Biermann
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta
Literatur
M. Becker, Untersuchungen zur römischen Kaiserzeit zwischen südlichem Harzrand, Thüringer Becken und Weißer Elster. Veröff. Landesamt arch. Denkmalpfl. Sachsen-Anhalt – Landesmus. Vorgesch. 48 (Halle [Saale] 1996).
H. Bringezu/E. Oelke/W.-D. Raabe, Braunkohlenbergbau in und um Halle (Saale). In: Halle und der Bergbau. Beiträge der wissenschaftlichen Tagungen am 17./18. Oktober 2003 und 24./25. September 2004. Beitr. Regional- u. Landeskultur Sachsen-Anhalts 37 (Halle 2005) 221–269.
W. Fieber, Als Salzkarren durch Döllnitz, Liebenau und weiter nach Süden fuhren... In: W. Müller (Hrsg), Die ›Liebenau‹ – Erkundungen zu einer Kulturlandschaft zwischen Halle und Leipzig (Halle/Saale 2008) 97–107.
H.-J. Kertscher/P. Kunitzsch, Vom ›Schwarzen Gold‹ zum ›Grünen Juwel‹, oder: Wie die Grube ›Hermine Henriette I‹ zum Osendorfer See mutierte. In: W. Müller (Hrsg), Die ›Liebenau‹ – Erkundungen zu einer Kulturlandschaft zwischen Halle und Leipzig (Halle/Saale 2008) 197–207.
W. Müller, Die ›Liebenau‹ – Erkundungen zu einer Kulturlandschaft zwischen Halle und Leipzig (Halle/Saale 2008).
A. Muhl/R. Schwarz, Die Erfindung der Germanen. Frühe Römische Kaiserzeit 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. Begleithefte zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle 6 (Halle [Saale] 2017).
W. Nitzschke/E. Schröter, Ein Adelsgrab der frühen römischen Kaiserzeit von Quetzdölsdorf, Kr. Bitterfeld. Jahresschr. Mitteldt. Vorgesch. 72, 1989, 71–83.
W.-D. Raabe, Der Braunkohlenbergbau um Döllnitz. In: W. Müller (Hrsg), Die ›Liebenau‹ – Erkundungen zu einer Kulturlandschaft zwischen Halle und Leipzig (Halle/Saale 2008) 151–167.
B. Schmidt/W. Nitzschke, Ein Gräberfeld der Spätlatènezeit und der frührömischen Kaiserzeit bei Schkopau, Kr. Merseburg. Veröff. Landesmus. Vorgesch. Halle 42 (Berlin 1989).
E. Schmidt-Thielbeer, Die südlichen Elbgermanen. In: B. Krüger (Bearb.), Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa. Ein Handbuch in zwei Bänden. 1. Von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (4. Aufl. Berlin 1983) 399–408.
B. Stoll-Tucker, Die Vorgeschichte von Döllnitz und Umgebung. In: W. Müller (Hrsg), Die ›Liebenau‹ – Erkundungen zu einer Kulturlandschaft zwischen Halle und Leipzig (Halle/Saale 2008) 83–95.
Th. Voigt, Das hermundurische Urnengräberfeld bei Bornitz, Kreis Zeitz. Jahresschr. Mitteldt. Vorgesch. 59, 1975, 173–342.
O. Wagenbreth, Die Braunkohlenindustrie in Mitteldeutschland. Geologie, Geschichte, Sachzeugen (Markkleeberg 2011).