Reichtum im verschwundenen Dorf
März 2024
Erste Fundmeldungen, illegaler Sandabbau und Mülldeponierungen sorgten bereits in den 1970er Jahren für erste oberflächige Begehungen an einer Niederung des Elburstromtals bei Lübs im Jerichower Land. Spätere Prospektionen und die Analyse des bisher geborgenen Fundmaterials boten hierbei einen Einblick in die Nutzungsgeschichte des Areals, das über einen Zeitraum von etwa 6000 Jahren als Siedlungs- und Bestattungsplatz genutzt wurde.
Den ehrenamtlichen Mitarbeitern des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt Otto Möbius und Daniel Schönfeld gelang es in verschiedenen Prospektionskampagnen zwischen 2017 und 2021 zahlreiche Buntmetallfunde, darunter mehrere vergoldete Objekte, zu bergen.
Neben mehreren historisch überlieferten Großsteingräbern der Tiefstichkeramikkultur, einem vermeintlichen Siedlungsplatz der Schönfelder Kultur, zahlreichen Siedlungskeramiken der späten Bronze- und frühen Eisenzeit, einem reichen Fundinventar aus Urnenfragmenten, charakteristischen Fibeltypen und absolut datierbaren Münzen der römischen Kaiserzeit, fiel auf dem Fundplatz Rothe Berge (Abbildung 1) insbesondere das komplexe spätmittelalterliche Material aus diversen Gürtelschnallen, Keramikscherben grauer Irdenware, Beschlagfragmenten oder Pferdegeschirranhängern auf.
Die zuletzt genannten Funde und der überlieferte Name der Fundstelle, der sich vermutlich auf die Waldrodung des Gebiets bezieht, deuten auf die Existenz einer oder mehrerer mittelalterlicher Wüstungen, die auch mithilfe der Wüstungskunde des Jerichower Lands bisher nicht identifiziert werden konnten (Reischel 1930).
Unter den bemerkenswertesten Funden bis dato konnte ein 3,1 Zentimeter großes Buntmetallobjekt (HK Nr. 17124:1:38) mit quadratischer Grundform und vergoldeter Oberfläche herausgestellt werden (Abbildung 2). Trotz des fortgeschrittenen Korrosionsgrades blieb die einzigartige Verzierungsvielfalt weitestgehend erhalten.
Der Rand des Objekts zeichnet sich durch ein blütenartiges Dekor aus. Die insgesamt vier ausgeformten Eckrundeln besitzen zentrale Lochungen, die zum Anbringen des Objekts gedient haben dürften. Dazwischen befinden sich vier kreisrunde Buckel. Im Mittelpunkt des Fundes kann eine weitere Durchlochung festgestellt werden, die durch eine pyramidale Ausformung hervorgehoben wird.
Besonders zu akzentuieren sind nicht nur die gut erhaltene vergoldete Oberfläche, die den Wert des historischen Funds widerspiegelt, sondern die vier plastisch herausgearbeiteten Gesichts- oder Maskendarstellungen, die sich anblickend unterhalb der Eckrundeln gegenüberstehen. Deutlich zu erkennen sind die Augen- und Nasenpartien, die sehr wahrscheinlich durch die kaum erhaltenen Münder zu ergänzen sind. Die Zwischenräume innerhalb der plastischen Dekore sind auf dem gesamten Objekt mit einer feinen Ziselierung aus kleinen, ovalen bis runden Eintiefungen versehen.
Obwohl die Erhaltungszustände kaum mit dem des Objekts aus Rothe Berge verglichen werden können, konnten durch stilistische Gegenüberstellungen zwei ähnliche Funde aus der Prussia-Sammlung der Staatlichen Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte (PM Pr 6109) und vom Wendenfriedhof bei Mittenwalde, Landkreis Dahme-Spreewald, Brandenburg (Biermann et al. 2016, 211, Abb. 79, 9) für eine Interpretation herangezogen werden (Abbildung 3).
Als mögliche Interpretation zählt die Ansprache als vergoldeter Kästchenbeschlag, der mithilfe von Nieten oder Nägeln am hölzernen Aufbewahrungsbehältnis, eventuell einem Reliquienbehältnis, befestigt wurde. Durch die Analyse und Datierung des restlichen Fundmaterials des Fundplatzes und die Korrelation mit dem Stück von Mittenwalde kann von einer zeitlichen Einordnung in das 12. beziehungsweise 13. Jahrhundert ausgegangen werden.
Ein weiterer Ansatz führt in das Spektrum der Trachtgegenstände – insbesondere zu den Gewandschließen. Sogenannte Kästchenagraffen, die mit einem Haken-Ösen-Prinzip zum Verschließen der Gewänder verwendet wurden, tauchen erstmals im Fundmaterial der Mittelawarenzeit (etwa zweite Hälfte 7. Jahrhundert) im Karpatenbecken auf (Prohaszka/Daim 2015). Zu den besonderen Merkmalen der Fundgruppe zählen die hohe Vielseitigkeit der Verzierungsvarianten und die Oberflächenvergoldung. Die Oberteile von zwei Beispielen aus Zasavica, Serbien und Abony, Ungarn (Abbildung 4) können hierbei aus morphologischer Sicht problemlos mit dem Stück von Rothe Berge verglichen werden. Optische aber auch zeitliche Übereinstimmungen konnten jedoch ebenfalls bei einer Skulptur vom Gouvernementsberg in Magdeburg festgestellt werden, die um 1370/80 datiert.
Die vollplastische ›Figur 9‹ aus gelb-grünlichem Sandstein zeigt eine adlige oder heilige weibliche Person mit Krone und Resten einer auffälligen Bemalung (Steller 2022, 107–116). Ihr Gewand wird von einer Agraffe zusammengehalten, deren Form und Ornamentik stark dem vorgestellten Objekt ähnelt (Abbildung 5). Trotz des hohen Fragmentierungsgrades konnten Spuren einer vergoldeten Oberfläche festgestellt werden.
Das vorgestellte Objekt könnte aufgrund der dargestellten Vergleiche als frühmittelalterlicher Importgegenstand, als Teil eines spätmittelalterlichen Kircheninventars oder als Hinweis auf die Ansässigkeit einer Person gehobenen Standes interpretiert werden. Zweifelsfrei können die anderen prunkvollen Objekte wie Pferdegeschirranhänger und diverse vergoldete Beschläge mit den zuletzt genannten Kontexten in Verbindung gebracht werden (Krabath 2001). Der Fundplatz Rothe Berge stellt durch seine Vielfalt an archäologischem Material einen herausragenden Fundort dar, dessen Geschichte durch zukünftige Forschungsgrabungen näher erschlossen werden könnte. Gleichzeitig belegt der Fundplatz Rothe Berge einmal mehr wie überaus wichtig die Zusammenarbeit zwischen Ehrenamtlichbeauftragendten und dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt ist.
Text: Iven Wustrau
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta
Literatur
F. Biermann/C. Hergheligiu/A. Kieseler, Slawische Siedlungsrelikte im Nottetal bei Mittenwalde, Lkr. Dahme-Spreewald - Forschungen innerhalb eines DFG-GAČR-Projektes. In: F. Schopper (Hrsg.), Veröffentlichungen zur Brandenburgischen Landesarchäologie 47 (2013) (Wünsdorf 2016) 139–243.
S. Krabath, Die hoch- und spätmittelalterlichen Buntmetallfunde nördlich der Alpen. Eine archäologisch-kunsthistorische Untersuchung zu ihrer Herstellungstechnik, funktionalen und zeitlichen Bestimmung (Rahden 2001).
P. Prohaszka/F. Daim, Der Kaiser auf der Mantelschließe. Zum Deckel der frühmittelalterlichen Dose von Sorpe (Prov. Lérida/E). Archäologisches Korrespondenzblatt 45, 2015, 550–563.
G. Reischel, Wüstungskunde der Kreise Jerichow 1 und Jerichow 2 (Magdeburg 1930).
K. Steller, Die mittelalterlichen Skulpturen- und Relieffragmente vom Gouvernementsberg in Magdeburg. Veröffentlichungen des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt 85 (Halle [Saale] 2022).