Bilder von mitteldeutschen Landschaften der Steinzeit - Die große Trommel der Bernburger Kultur von Derenburg
September 2024
In der Vorgeschichte Europas wechseln sich weitgehend anikonische Zeiträume mit solchen ab, die mehr oder weniger reiche Bilderwelten hinterlassen haben. In Mitteldeutschland treten Bilder besonders häufig im 4. und frühen 3. Jahrtausend vor Christus auf, einem Zeitraum, der durch verschiedene Ausprägungen der Trichterbecherkulturen gekennzeichnet ist. Neben den Innenwänden einiger Steinkammergräber häufen sich potenziell bedeutungstragende Darstellungen auf einer keramischen Sonderform: den tönernen Trommeln. Tontrommeln sind eine besondere Erscheinung des mitteldeutschen Mittelneolithikums beziehungsweise des norddeutschen Frühneolithikums und in insbesondere der Salzmünder, Walternienburger und Bernburger Kultur. Etwa 310 Funde, Fragmente sowie komplette oder rekonstruierbare Trommeln, kommen aus diesem Raum, 30 weitere aus Böhmen, Mähren und Kujawien (Lustig 2002, 172). Die Trommeln sind in der Folge Thema zahlreicher Arbeiten gewesen, die insbesondere um die Fragen typologischer Unterscheidungen zwischen den einzelnen Tontrommel nutzenden Kulturen und der Herkunft von Trommeln und Verzierungen kreisen, jedoch gelegentlich auch die Funktion als Musikinstrument und die möglichen Rollen im Bereich von Ritual und Kult in den Fokus nehmen (zusammenfassend etwa Schunke 2013; Scheyhing/Schunke 2013; Scheyhing 2016).
Ein besonderes Exemplar dieser Gruppe ist die tönerne Trommel der Bernburger Kultur von Derenburg (Abbildungen 1 und 2; HK-Nr. 59:201a). Sie wurde bereits 1959 in einer Grube entdeckt, die beim Abbau von Kies angeschnitten worden war (Römmer 1962) und zu der bekannten Siedlung vom Steinkuhlenberg gehörte (Hille 2020). Sie fällt mit 48 Zentimeter Höhe nicht nur durch ihre Größe auf, sondern auch durch flächige Verzierungen, die schwerpunktmäßig den Bereich über dem Umbruch ausfüllen. Dominant sind ein Schachbrettmuster und verschiedene ähren- oder tannenzweigartige Darstellungen, die auf den ersten Blick Pflanzen suggerieren. Auch innerhalb des Fußes befinden sich solche Darstellungen. Die Trommel wurde in mehrere große Fragmente zerscherbt aufgefunden und in den Werkstätten des Landesmuseums in Halle (Saale) kurz nach der Auffindung rekonstruiert. Dabei wurden auch die Ornamente teils ergänzt und die mit Gips ersetzten Teile den original vorhandenen farblich angepasst (Vergleich Abbildung 1). Bereits Römmer (Römmer 1962, Taf. 4b) bildet in der Erstpublikation diesen rekonstruierten Zustand ab und in der Folge nahmen auch die anderen genannten Arbeiten diesen Zustand zur Grundlage. Die Rekonstruktion ist in den Archiven des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt dokumentiert, sodass sich gut feststellen lässt, welche Teile original sind (Abbildungen 1, 2 sowie 3.1 und 3.2). Es handelt sich um ein Gefäß mit kesselförmigem Oberteil (38 cm Öffnung) und umgekehrt trichterförmigem Unterteil. Unterhalb der Öffnung befindet sich ein Kranz von ehemals wohl 25 abwärts gerichteten Zapfen, darunter liegt ein 5 cm breiter Bandhenkel. Der Ton ist rötlich-hellbraun mit schwarzbraunen Flecken.
Vom Fuß sind nur zwei große Fragmente erhalten, die außen unverziert sind, im Inneren jedoch Reste von tannenzweig- oder ährenartigen Motiven zeigen (Abbildung 2.4). Zumindest im oberen Teil war auch der Fuß der Trommel verziert, da einige fragmentarisch erhaltene Darstellungen ursprünglich klar in diesen Bereich hineinragten. Unterhalb des Zapfenkranzes zieht sich um den Bauch des Gefäßes eine friesartige Anordnung von Motiven, die im Bereich des Bandhenkels durch ein großes ›Tannenzweigmotiv‹ unterbrochen wird (Abbildungen 1 und 3.2). Der Fries ist in sich weiter in Register unterteilt. Rollt man die Darstellung vom Bandhenkel beginnend nach rechts ab, so finden sich im oberen Register eine fragmentarische und zwei komplett erhaltene Darstellungen, bei denen sich Gruppen von schrägen Linienbündeln rechts und links einer vertikalen Linie abwechseln. Weiter rechts befindet sich ein Schachbrettmuster aus drei mal drei Feldern. Ein zentrales leeres Feld ist umgeben von vier Feldern mit Furchenstichreihen. Drei der oben und unten des ›Schachbretts‹ außen liegenden Felder tragen ährenartige Motive. Das nur fragmentarisch erhaltene Feld unten rechts war der Symmetrie der Darstellung folgend ursprünglich wohl auch mit einem solchen Motiv versehen. Die Füllungen der flächig dekorierten Felder sind in grober Stichtechnik ausgeführt, es handelt sich weniger um Linien als um Reihen von eng gesetzten, ungefähr dreieckigen Einstichen. Die Ährenmotive der oberen Reihe weisen nach oben, die der unteren nach unten. Neben dem Schachbrettmotiv folgt eine fragmentarisch erhaltene Form, die wohl dem Motiv unter dem Henkel ähnelte und hier wiederum den Fries begrenzte. Unterhalb dieses Registers sind in zwei durch lange Furchenstichlinien begrenzten Bereichen antithetisch schräg gestellte Linienbündel angebracht, die ähnlich den Feldern des Schachbrettmotivs als Reihen teils unverbundener einzelner Einstiche ausgeführt sind. Offenbar lief dieses Register ursprünglich um den gesamten Gefäßkörper. Es endet unterhalb des Bandhenkels beidseitig des großen ›Tannenzweigmotivs‹, wobei eines der Enden die pflanzenartigen Darstellungen des Schachbretts wiederholt, allerdings in horizontaler Position. Unterhalb des Frieses sind drei weitere große ›Tannenzweigmotive‹ teilweise erhalten, die ehemals wohl bis auf den Fuß des Gefäßes reichten. Diese großen Motive sind im Gegensatz zu den anderen überwiegend als Ritzlinien ausgeführt.
Das Bild auf der Trommel von Derenburg durchbricht die strenge Norm geometrischer Keramikzier, die für die Bernburger Kultur charakteristisch ist. Es lässt eine tiefere Bedeutung vermuten, die sich nicht einfach erschließt. Es begegnen drei unterschiedliche Arten von Darstellungen, die sich aber allesamt auf Pflanzen beziehen dürften (Abbildung 3.2):
a. Das ›Tannenzweigmotiv‹ mit regelmäßig zu beiden Seiten der zentralen Senkrechten gesetzten schrägen Linienbündeln. Diese Darstellungen sind am größten.
b. Das Motiv mit abwechselnd zu beiden Seiten gesetzten Linienbündeln ist deutlich kleiner wiedergeben als Motiv a.
c. Innerhalb des Schachbretts liegen die am kleinsten dargestellten, ährenartigen Motive.
Die Unterschiede in der Darstellungsart und Größe der Motive sowie ihre regelmäßige Anordnung im Bildfeld sind kaum zufällig. Es ergibt sich der Eindruck, dass große Bäume (›Tannenzweigmotiv‹“ a) regelmäßig angelegte Felder, Äcker, umstehen, auf denen eine größere Pflanzenart (Motiv b) und auf kleineren Parzellen Getreide (Ährenmotiv c) und Brachen oder gerade gepflügte/bepflanzte Flächen (Einstichreihen) sich abwechseln. Entsprechend könnten die schrägen Bündel von Einstichlinien unterhalb des oberen Registers auch als Felder zu deuten sein, wobei hier vielleicht der Versuch einer Perspektive vorliegt, mit der ähnlich den Größenunterschieden der Pflanzen Tiefe suggeriert werden soll.
Eine Stütze findet diese Deutung in der bekannten Darstellung auf einem Trichterbecher aus Bronocice, woi. Świętokrzyskie, Polen (Milisauskas/Kruk 1982 Taf. 8; Milisauskas u. a. 2019). Das fragmentarisch erhaltene Gefäß stammt aus einer durch ein Radiokarbondatum auf 3637 bis 3373 cal BC (2-Sigma-Bereich) datierten Siedlungsgrube (Milisauskas u. a. 2019, 234). Es zeigt zwei nach oben gerichtete Wagen und ein Fragment einer weiteren Wagendarstellung (Abbildungen 3.3 und 3.4). Die zwei komplett erhaltenen Wagen werden durch ein Schachbrettmuster voneinander getrennt, neben ihnen ist ein großes tannenzweigartiges Motiv platziert. Nach unten wird die Darstellung durch Zickzacklinien abgeschlossen. Die Wagen verraten, dass es sich um eine gegenständliche Darstellung handelt, es liegt damit nahe, auch die zunächst weniger klaren Elemente entsprechend zu deuten. Die Ausgräber interpretierten die Darstellungen entsprechend als Ensemble aus Wasser (Zickzacklinien), Wald (›Tannenzweigmotive‹) und den Wegen mit Wagen, die von Äckern getrennt werden (Schachbrettmotiv; zusammenfassend: Milisauskas u. a. 2019, 234–235). Die Darstellung von Derenburg würde die Interpretation des Schachbrettmusters als Felder noch stützen, sind hier doch sogar Pflanzen auf einigen der Rechtecke angegeben. Die Kästen der Wagen von Bronocice tragen zentral Kreise, die als große Vorratsgefäße interpretiert worden sind. Damit könnte die gesamte Darstellung in einem agrarischen Kontext stehen.
Es handelt sich mithin um Bilder von steinzeitlichen Landschaften, wohl nicht im Sinne von Karten, die sich auf eine reale Topografie beziehen, wohl aber eine reale Vorstellung der Landnutzung vermittelnd. Monika Hellmund (Hellmund 2021, 185) geht für den neolithischen Ackerbau in Mitteldeutschland von Fruchtwechseln und Anbaupausen aus, da sonst Äcker schnell auslaugten. In archäobotanischen Getreideproben fiunden sich häufig Rückstände anderer Kulturpflanzen, die auf die zuvor auf den Äckern kultivierten Pflanzen hinwiesen. Das Schachbrettmuster aus mit Einstichen oder Pflanzen gefüllten und leeren Feldern könnte ein entsprechendes Nebeneinander von Brachen, gerade gepflügten/bepflanzten Äckern und solchen mit bereits erntereifen Pflanzen andeuten. Das Bild auf der großen Trommel von Derenburg wäre damit eine der ältesten Landschaftsdarstellungen Mitteldeutschlands.
Text: Oliver Dietrich
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta
Literatur
M. Hellmund, Kultur- und Sammelpflanzen des Neolithikums. In: H. Meller (Hrsg.), Früh- und Mittelneolithikum. Kat. Dauerausstellung Landesmus. Vorgesch. Halle 2 (Halle [Saale] 2021) 177–190.
A. Hille, Die Siedlung der Bernburger Kultur auf dem Steinkuhlenberg bei Derenburg, Lkr. Harz: Nach den Ausgrabungsergebnissen des Instituts für Vor- und Frühgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in den Jahren 1960–1964 und 1966. Veröff. Landesamt Denkmalpfl. u. Arch. Sachsen Anhalt – Landesmus. Vorgesch. 79 (Halle [Saale] 2020).
M. Lustig, Die neolithischen Tontrommeln im mittel- und norddeutschen Raum. In: E. Hickmann/A. D. Kilmer/R. Eichmann (Hrsg.), Studien zur Musikarchäologie III. Archäologie früher Klangerzeugung und Tonordnung. Orient-Arch. 10 (Rahden/Westf. 2002) 171–186.
S. Milisauskas/J. Kruk, Die Wagendarstellung auf einem Trichterbecher aus Bronocice in Polen. Arch. Korrbl. 12, 1982, 141–144.
S. Milisauskas/J. Kruk/K. Hudson, Bronocice Funnel Beaker vessel with wagon motif: different narratives. Arch. Polona 57, 2019, 233–240.
B. Römmer, Eine neue Trommel der Bernburger Gruppe aus Derenburg, Kr. Wernigerode. Ausgr. u. Funde 7, 1962, 24–25.
N. Scheyhing, Fingertips. Neue Hinweise zur Interpretation der mitteldeutschen Tontrommeln des 4. Jt. v. Chr. TÜVA-Mitt. 15, 2016, 67–84.
N. Scheyhing/T. Schunke, Der magische Klang – die Tontrommeln des 4. Jahrtausends v. Chr. In: H. Meller (Hrsg.), 3300 BC. Mysteriöse Steinzeittote und ihre Welt. Ausstellungskat. Halle 2013–2014 (Halle [Saale] 2013) 257–261.
T. Schunke, Die Welt der Zeichen – Symbolik in der Salzmünder Kultur. In: H. Meller (Hrsg.), 3300 BC. Mysteriöse Steinzeittote und ihre Welt. Ausstellungskat. Halle 2013–2014 (Halle [Saale] 2013) 262–266.