Wie kam das astronomische Wissen auf die Himmelsscheibe?
Archäologen auf der Suche nach möglichen bronzezeitlichen Reiserouten ins östliche Mittelmeer
6. November 2019
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Im Rahmen eines deutsch-italienischen Kooperationsprojektes haben sich Wissenschaftler an der apulischen Adriaküste Italiens auf Spurensuche nach dem Weg des astronomischen Wissens, das auf der Himmelsscheibe von Nebra abgebildet ist, begeben. Die Suche an Land und unter Wasser hat Hinweise auf frühe Hafenanlagen erbracht, die auch bronzezeitlichen Fürsten aus Mitteldeutschland für ihre Reise ins östliche Mittelmeer und den Vorderen Orient passiert haben könnten.
Die Forschungsmission im Sommer 2019 und erste Ergebnisse
Die astronomische Darstellung auf der Himmelsscheibe von Nebra gilt zwar seit langem als entschlüsselt, doch wie die Fürsten der Frühbronzezeit zu diesem hochkomplexen Wissen gelangten, stellt die Archäologen noch immer vor Rätsel. In ihrem jüngst erschienenen Buch »Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas« formulierten Harald Meller und sein Co-Autor Kai Michel die These, dass ein Mitglied des »Fürstenhauses« selbst in den Nahen Osten gereist sein könnte und von den dortigen Hochkulturen die entsprechenden Kenntnisse nach Mitteldeutschland mitbrachte, die auf der Himmelsscheibe piktogrammartig abgebildet wurden.
Bei der Frage, wie eine solche Reise hätte vonstattengehen können, sind eine Reise per Schiff, die möglichen Routen und die angesteuerten Häfen von besonderem Interesse. Eine deutsch-italienische Forschergruppe um die Archäologen Prof. Dr. François Bertemes (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Prof. Dr. Harald Meller (Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt ), Dr. Maria Piccareta (Soprintendenza Archeologia, Belli Arti e Paessaggio per le Province di Brindisi, Lecce e Taranto – SABAP-LE) und Dr. Teodoro Scarano (Università del Salento, Lecce) widmete sich nun im Rahmen einer Kooperation dieser Frage. Die Forschungen konzentrieren sich auf zwei bronzezeitliche Siedlungen entlang der Adriaküste am Canale d’Otranto: Torre Guaceto (Abbildung 1a) (circa 100 Kilometer südlich von Bari) und das 90 Kilometer südlicher gelegene Roca Vecchia (Abbildung 1b). Beide sind strategisch wichtige Orte für die Schifffahrt zwischen Ägäis und zentralem Mittelmeer, unter anderem weil die Häfen hier die nächstmöglichen in Richtung Griechenland waren. Die Landesarchäologin der Provinzen Brindisi, Lecce und Taranto, Dr. Maria Piccarreta, freut sich über die Kooperation: »Dank dieser Forschung wird die Aufmerksamkeit besonders auf das reiche Unterwassererbe vor Roca Vecchia und Torre Guaceto gelegt. Die Zusammenarbeit mit den deutschen Kollegen soll klären, ob und wie Salento und Mitteldeutschland während der Bronzezeit in Verbindung gestanden haben könnten«.
Neben Untersuchungen an Land wurden auch Unterwassersondierungen durchgeführt. Bei den Tauchgängen war eine hochmoderne Unterwasserdrohne – die SeaCat der Firma ATLAS ELEKTRONIK – im Einsatz (Abbildungen 2a und 2b). Dank dieser weltweit einzigartigen Technik und des Einsatzes von Tauchspezialisten unter Leitung von Dr. Sven Thomas vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt und Jörg Kalwa von ATLAS ELEKTRONIK kann die Forschergruppe nunmehr erste Resultate vorweisen.
Bei der Unterwasserforschungsmission konnten – nach vorläufiger Auswertung der Daten – vor Roca Vecchia mit Hilfe der Sonaraufnahmen des Unterwasserroboters SeaCat fünf bisher noch undatierte Schiffswracks entdeckt und die Ausdehnung der bronzezeitlichen Siedlung neu bestimmt werden. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Halbinsel (und damit die Siedlungsfläche) in der Bronzezeit etwa dreimal so groß war wie bisher angenommen (Abbildung 3a bis c). Noch über 100 Meter vor der heutigen Küste wurden Steinquader und Säulenfragmente gefunden, die vermutlich zu einer ehemaligen Hafenanlage und vorgelagerten Befestigung gehörten (siehe auch Abbildung 6). Erforscht wurde auch das Höhlensystem um die Grotta della Poesia (Abbildung 5a und 5b). Nach der Entdeckung einer vierten, bisher unbekannten Grotte mittels geomagnetischer Prospektion auf dem darüber liegenden Plateau, konnten die Forschungstaucher zwei Zugänge vom Meer her lokalisieren. Die Taucher näherten sich der Grotte bis auf circa 15 Meter, mussten dann aber ihre Arbeit abbrechen, weil eine weitere Erkundung aufgrund der Instabilität der Tunneldecken zu gefährlich war.
Bei Tauchgängen im nördlich von Roca Vecchia gelegenen Torre Guaceto entdeckten die Wissenschaftler ein weiteres, noch nicht näher datiertes Schiffwrack sowie Amphoren unter Wasser. Die Sonaraufnahmen des Tauchroboters lassen außerdem erkennen, dass dort, wo sich heute das Ionische Meer vor Süditaliens Küste erstreckt, in der Bronzezeit ein Flussdelta lag, dessen Flussläufe noch zwei Kilometer vor der heutigen Küste nachweisbar sind. Der Wasserspiegel lag damals vermutlich zwei Meter tiefer. Im Delta befanden sich zahlreiche Inseln. Besiedlungsspuren (bisher noch undatiert) weisen darauf hin, dass einst viele dieser Inseln bewohnt waren.
Darüber hinaus haben die Forscher in diesem Jahr die Keramikfunde aus Roca Vechia untersucht. Dabei konnten sie Stücke identifizieren, die – nach einer ersten Einschätzung – älter als bisher angenommen sind und minoische Keramikformen aus der Ägäis nachahmen, die ins 18. Jahrhundert vor Christus datieren. Damit zeigt sich nicht nur, dass die Siedlung von Roca Vecchia schon früh in engem Kontakt zur ägäischen Welt stand, sondern auch, dass sie schon zur Zeit der Fertigung Himmelsscheibe bestanden hat. Diese aktuellen Forschungsergebnisse zur Keramik der Siedlung von Roca Vecchia und die dort sowie vor Torre Guaceto entdeckten Hinweise auf Schiffswracks und Hafenanlagen lassen auf mögliche Reiserouten ins östliche Mittelmeer und von dort weiter in den Nahen Osten schließen. Während bisher die bronzezeitliche Siedlung bei Punta di Zambrone an der tyrrhenischen Küste Süditaliens als Station einer möglichen Reiseroute in Richtung Ägäis (Griechenland und Kreta) in Frage kam, lassen die neuen Erkenntnisse den kürzeren Weg entlang der Adriaküste bei Roca Vecchia plausibel erscheinen. Möglicherweise war es also dieser Weg, den vor fast 4000 Jahren einer der Fertiger der Himmelsscheibe von Nebra an Bord eines Schiffes in den Nahen Osten befuhr und von dieser Reise das astronomisches Wissen mitbrachte, das später auf der Himmelsscheibe von Nebra verschlüsselt wurde. In künftigen Forschungsmissionen an der Adriaküste Italien soll unter Wasser und an Land die Suche nach dem Weg des Wissens weitergehen.
Bronzezeitliche Siedlungsspuren aus der Zeit der Himmelsscheibe in Roca Vecchia
Der Fundplatz von Roca Vecchia liegt auf einer kleinen Halbinsel an der adriatischen Küste Italiens und umfasst eine mehrphasige Siedlung, die vom 17. Jahrhundert vor Christus bis 2. Jahrhundert vor Christus kontinuierlich bestand. Während der Bronzezeit wurde die Siedlung mehrfach zerstört und wiederaufgebaut. Zu dieser Zeit beeindruckte Roca Vechia mit einer fast 200 Meter langen und bis zu 23 Meter breiten massive Wehrmauer (Abbildung 6). Diese mächtige Befestigungsmauer verfügte über ein monumentales Tor sowie verschiedene Ausfallpforten und einen Graben, der mit einer steinernen Brücke für jeden Eingang versehen war. Um 1400 vor Christus wurde die Siedlung durch einen Brand komplett zerstört – ein Schicksal, das den Archäologen heute einzigartige Momentaufnahmen beschert. So stießen die Ausgräber nahe des Haupttores auf einen außergewöhnlichen Befund. Hier wurde das Skelett eines 18 bis 20 Jahre alten Mannes im unteren Teil der Einsturzschichten entdeckt. Die anthropologischen Untersuchungen konnten Stichwunden in der Lendengegend als Todesursache feststellen. In der Nähe des Skeletts wurden für die Ägäis typische Beigaben gefunden, ein Bronzedolch sowie ein Vogelkopf, geschnitzt aus dem Knochen eines Flusspferdes, der zu einer typischen Schatulle (einer Pyxis) gehörte (Abbildung 7). Wer war der Krieger: Angreifer oder Verteidiger, der im Kampf tödlich verwundet wurde? Ein anderer Befund zeigt sieben Individuen zwischen großen Vorratsgefäßen in einem Gang im Bereich der Ausfallspforte C (Abbildung 8). Haben sich die Menschen hier beim Angriff der Befestigung versteckt und erstickten in dem Feuer, das die Anlage zerstörte? Unweit der Siedlung befindet sich die Grotta della Poesia. Der Zugang und ein Großteil der Höhle stehen heute unter Wasser. Dass die Höhle über einen langen Zeitraum zu kultischen Zwecken genutzt wurde, belegen zahlreiche Darstellungen an den Felswänden. Unter den Graffiti lassen sich auch mögliche minoische Schiffe identifizieren (Abbildungen 9a und 9b), die zusammen mit den minoisierenden Keramikfunden aus der Siedlung auf weitreichende Kontakte mit der Ägäis hinweisen. Die strategisch günstige Lage der Siedlung mit dem natürlichen Hafen in der Bucht von Torre dell’Orso , die massive Befestigungsmauer und das Höhlenheiligtum der Grotta della Poesia lassen darauf schließen, dass der Ort während des 2. Jahrtausends vor Christus eine besondere soziale sowie kultische Bedeutung und damit Anziehungskraft bis in den griechischen Raum hinein hatte.
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Stellvertretender Landesarchäologe, Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit
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