Ein Zinnfisch aus der Stadt des Erzbischofs
Juli 2018
Im Jahr 1181 wurde die von Heinrich dem Löwen (1129/1135 bis 1195) in der sumpfigen Niederung des Flüsschens Ohre gegründete Stadt Neuhaldensleben (heute Stadtteil von Haldensleben, Landkreis Börde) durch den Magdeburger Erzbischof Wichmann von Seedorf (vermutlich 1116 bis 1192) erobert und zerstört. Der Erzbischof hatte die Ohre mit einem Damm aufgestaut und so die stark befestigte Stadt unter Wasser gesetzt und zur Kapitulation gezwungen. Etwa zwei Kilometer östlich der zerstörten Siedlung ließ Wichmann eine neue Stadt an der Ohre anlegen. Der ungefähr 35 Hektar große Ort Niendorf war von einer trapezförmigen Befestigung umgeben. Schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts verlagert sich das Siedlungsgeschehen dann allerdings nach Neuhaldensleben zurück.
Im Zentrum der Wüstung Niendorf war bereits im Jahr 1992 der Grundriss einer über 40 Meter langen Steinkirche aufgedeckt worden (Abbildung 1). 2010 wurde dann ein zentraler Bereich derplanmäßig angelegten städtischen Siedlung untersucht; auf ungefähr zwei Hektar Fläche konnten Gebäudereste, insbesondere Holz- und Steinkeller, Herd-/Ofenstellen, Brunnen, Kloaken und auch ein Kalkbrennofen erfasst und umfangreiches Fundmaterial geborgen werden (Abbildung 2). Momentan finden im Vorfeld des Neubaus von Gewerbehallen im südöstlichen Randbereich der früheren Siedlung Niendorf wieder ausgedehnte archäologische Untersuchungen statt. Zahlreiche Schlacken belegen, dass in diesem Areal der von Erzbischof Wichmann angelegten Stadt Metallhandwerker ansässig waren. Ein außergewöhnlicher Fund kam in der Verfüllung eines kastenförmigen Holzbrunnens, der in eine Werkgrube gebaut wurde (Abbildung 3), ans Tageslicht: ein kleiner, sorgfältig gearbeiteter Fisch aus Metall (Abbildung 4).
Das Fischmodell ist 6,6 Zentimeter groß und besteht aus einer Blei-Zinn-Legierung. Es sind sehr feine Details dargestellt: die Schuppen der Haut und feine Flossen mit dazwischen liegenden Rautenmustern (Abbildung 5). Im Gegensatz zu dieser genauen Ausarbeitung wurde der Kopf anscheinend nicht gestaltet. Der Fisch läuft am Kopfende rechteckig zu und ist 1,2 Zentimeter breit. An diesem Rand sind keine Bruchkanten vorhanden. Bei Untersuchungen unter dem Mikroskop wird erkennbar, dass es sich um eine hier zusammengebogene Tülle handelt (Abbildung 6). An den Tüllenwandungen befindet sich auf jeder Seite versetzt eine runde Vertiefung. Die Tülle wurde an dieser Stelle mechanisch verformt, um etwas einzuklemmen. Außerdem sind weitere Spuren vom Zusammenbiegen der Tülle erkennbar (Abbildung 7).
Zeugnisse mittelalterlicher Zinngießerei sind archäologisch selten überliefert. Dies liegt daran, dass Blei-/Zinn-Legierungen bei Zutritt von Sauerstoff und Feuchtigkeit schnell bis zur Unkenntlichkeit korrodieren. Ausnahmen sind selten. Ein diesbezüglich sensationeller Fund, der die hochstehende Technologie der Zinngießerei belegt, wurde im April 2005 in Magdeburg entdeckt. Es handelte sich um die Abfälle einer größeren Zinngießerei in der Goldschmiedegasse in Magdeburg, worunter sich die Reste von über 800 steinernen Zinngussformen fanden. Der Befund datiert in die Zeit um 1200. Es handelte sich überwiegend um perfekt gearbeitete, mehrteilige Formen, die sehr präzise im Negativ aus Kalkmergelplatten geschnitzt waren, teils unter Anwendung rotierender Präzisionsbohrer. Die Magdeburger Werkstatt fertigte vor allem Schmuckstücke, Kleiderbesatz, aber auch kleinformatige lithurgische Gerätschaften und vollplastische Figürchen.
Unser Fisch ist mit großer Sicherheit einer solchen Steinform entsprungen. Man erkennt das an den feinen, erhabenen Linien, mit denen beispielsweise die Rautenmuster ausgebildet sind. Sie wurden mit Sicherheit mit einem Stichel in den leicht zu bearbeitenden Stein eingeritzt (eingetieft), worauf sie dann im Metallguss, also im Positiv, erhaben herausstehen. Die Trennung der beiden Formhälften verlief wohl entlang der Flossenkante. Wie aber ist die Höhlung des Fisches entstanden? Wahrscheinlich liegt hier ein so genannter »Sturzguss« vor. Das flüssige Metall wurde in die Form gegossen. Danach begann es, beim Erkalten, von den Wandungen ausgehend, zu erstarren. Bevor aber sämtliches Metall fest wurde, goss man das innere, noch flüssige Metall wieder aus, sodass ein metallischer Hohlkörper in der Form zurückblieb.
Wozu diente der Fisch? Die schmale Öffnung scheint darauf hinzuweisen, dass hier etwas dünnes, vielleicht eine Schnur, eingeklemmt gewesen ist. Unweigerlich muss man da an eine Angelschnur denken. Handelte es sich bei dem Fischlein also um einen »Blinker«, also einen Kunstköder in Fischform? Dafür könnten auch die widerhakenartig ausgebildeten Flossen sprechen. Dieser Annahme steht jedoch ein nicht unwichtiges Argument entgegen: Der »Blinker« ist eine moderne Erfindung, die erst 1934 patentiert wurde.
Das fischförmige Objekt könnte auch das Ende eines Bandes geziert haben. Möglicherweise stammt es aus dem kirchlichen Umfeld. Fische zählen zu den wichtigen christlichen Symbolen. Das Lukasevangelium berichtet, wie Jesus den Fischer Simon – später Petrus genannt –nach einem unerwartet reichen Fischfang zu seinem Apostel berufen hat. Simon sei ab jetzt »Menschenfischer«. Der Fisch stellt somit ein wichtiges Symbol der Taufe dar. Zudem wird in der christlichen Kunst die Darstellung der Eucharistie (also das Abendmahl) meist auf die im Johannesevangelium beschriebene wundersame Vermehrung der fünf Gerstenbrote und zwei Fische zur Speisung der Fünftausend Bezug genommen. Im frühen Christentum wuirde das altgriechische Wort für Fisch (ΙΧΘΥΣ, Ichthys) allerdings auch als Acronym für Christus gedeutet:gedeutet: »ἸΗΣΟ˜ΥΣ ΧΡΙΣΤῸΣ ΘΕΟ˜Υ ΥἹῸΣ ΣΩΤΉΡ« (Isus Christos Theou Ios Sotir = Jesus Christus, Gottes Sohn, der Erlöser).
Text: Johanna Kutowsky, Götz Alper, Vera Keil, Heinrich Wunderlich
Online-Redaktion: Georg Schafferer, Anja Lochner-Rechta
Literatur
D. Berger, Steingussformen aus dem spätromanischen-frühgotischen Magdeburg. Archäometrische und experimentalarchäologische Untersuchungen zum mittelalterlichen Zinnguss an ausgewählten Fundstücken. Diplomarbeit, Freiberg 2009 (online verfügbar auf academia.edu).
M. Mietz/G. Alper, Die Wüstung Niendorf – Siedlung, Burg, Planstadt. In: H. Meller (Hrsg.), Haldensleben VOR seiner ZEIT. Archäologische Ausgrabungen 2008–2012. Archäologie in Sachsen-Anhalt Sonderband 17 (Halle [Saale] 2012) 148–160.
K. Krabath, Die hoch- und spätmittelalterlichen Buntmetallfunde nördlich der Alpen. Eine archäologische-kunsthistorische Untersuchung zu ihrer Herstellungstechnik, funktionalen und zeitlichen Bestimmung (Rahden/Westf. 2001).
B. Schwineköper, Überlegungen zum Problem Haldensleben. Zur Ausbildung des Straßen-Gitternetzes geplanter deutscher Stadt des Hohen Mittelalters. In. H. Jäger (Hrsg.), Civitatum communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift H. Stoob zum 65. Geburtstag (Köln 1984) 213–253.