GottVergessen - Eine enträtselte Kultfigur
September 2019
Die zernarbte und archaisch anmutende Kleinskulptur ist mit den Maßen 71 Millimeter mal 41 Millimeter knapp handtellergroß. Dargestellt ist ein nackter Mann, der sitzend seine Arme ausbreitet (Abbildung 1). Das Figürchen ist unproportioniert, wie überhaupt die Gestaltung ein nur einfaches Niveau erreicht. Nicht besser ist die technische Ausführung. Die Vollplastik wurde in nur mäßiger Qualität aus Buntmetall gegossen; und das offenbar mit Pannen. Unterschiedliche Legierungsmischungen an verschiedenen Körperbereichen zeigen jedenfalls, dass mehrere Gussvorgänge vonnöten waren, um die Figur zu fabrizieren. Doch zeigt sich hier zugleich die Beherrschung des Überfanggusses. Die heutige Oberflächenstruktur ist allerdings Folge der fortgeschrittenen Korrosion, verursacht durch eine lange Bodenlagerung.
Genauso rätselhaft wie seine Bedeutung ist auch die Herkunft des grobschlächtigen Männchens. Es gehörte ursprünglich zur Privatsammlung des Barons Georg von Werthern, die sich in Schloss Groß Neuhausen bei Sömmerda, etwa 60 Kilometer von Halle entfernt befand. Heimatkundlich interessiert nahm er vor allem archäologische Fundstücke aus seinen nordthüringischen Ländereien um Großneuhausen in Obhut.
Die Figur wurde im Jahre 1884 in »Wallendorf« als Einzelstück gefunden. Gemeint ist die Gemarkung einer gleichnamigen Wüstung, die nur etwa fünf Kilometer westlich der Latifundien des Schlossherrn zu lokalisieren ist. 1912 wurde der Bodenfund mit weiteren Teilen der Kollektion vom Sohn des Sammlers dem Landesmuseum in Halle geschenkt. Weitere Informationen liegen nicht vor. Und aus den mitteldeutschen Gebieten sind bislang keine Vergleichsstücke bekannt. Vielleicht fand deshalb diese Kuriosität bislang noch keine Beachtung.
Aufgrund der äußerst spärlichen Faktenlage ist dem Fund nur mit typologischen, stilistischen und technologischen Vergleichen beizukommen. Das dargestellte Sujet, der künstlerische Duktus und die handwerkliche Umsetzung finden frappierende Entsprechungen in einer kleinen Gruppe germanischer Bronzefigürchen aus Skandinavien. Die ebenfalls nackten Vergleichsstücke sind Votivfiguren, die abseits von Grab und Siedlung einzeln im Gelände gefunden wurden. Sie stellen nach römischen Vorbildern Götter dar, aber angefertigt nach eigenem Stilempfinden, Können und vor allem Sinngehalt. Ihre Datierung lässt sich aufgrund der spärlichen Befundlagen nur grob auf das 3. bis 6. Jahrhundert eingrenzen. Es sind Einzelfunde und Siedlungsreste, die bestenfalls über die allgemeine Datierung des Fundplatzes zu fixieren sind. Allein eine Bronzefigur aus Fünen (Dänemark) ist aufgrund einer kurzen Runeninschrift aus sich selbst heraus in das 5. oder 6. Jahrhundert datierbar.
Wichtig für die erwogene Zuordnung der Wallendorfer Figur ist nicht zuletzt auch die Sitzpose – ein beliebter Pose in der germanischen Bildsprache: die thronende Gottheit als Personifikation allgewaltiger Macht (Abbildung 2). Auf jeden Fall war sie ein kultisches oder gar sakrales Bildwerk. Ungeklärt bleibt aber die spannendste Frage, wer denn nun dargestellt ist. Aufgrund fehlender Attribute, Gebärden oder szenische Einbindung ist eine Identifizierung mit überlieferten Gottheiten nicht möglich. Vielleicht ein namentlich unbekannter Stammesgott?
Denkbar ist aber auch, dass die in dieser Sachgruppe zumeist unübliche Bartlosigkeit auf ein anderes transzendentes Wesen verweist: den (Familien-, Stammes-, et cetera) Ahnen, der bei den germanischen Sippen und Stämmen für das Gemeinschaftsbewusstsein wie auch für die spirituelle Stärkung unentbehrlich war.
Welche Funktion hatte ein solches Bildnis? War es für den öffentlichen oder den privaten Gebrauch gedacht? Wurde es verehrt und andachtsvoll präsentiert oder gar angebetet und beopfert? Wir wissen es nicht. Tacitus berichtet zwar »Und sie nehmen gewisse Bildnisse und Figuren, die sie aus den Hainen holen, mit in die Schlacht« (Germania 7,2), doch ob er damit so kleinformatige Statuetten meinte, ist zumindest diskutabel. Die handliche Größe der vorgestellten Figur spräche jedenfalls eher für eine Präsenz an einem familiären oder lokalen Heiligtum (Abbildung 3). Auch wenn solche Fragen offen bleiben, so ist der historische Wert dieser Statuette immens. Sie ist ein ganz seltenes Zeugnis der Figuralkunst und der Spiritualität aus der germanischen Welt.
Text: Arnold Muhl
Online-Redaktion: Imke Westhausen, Anja Lochner-Rechta
Literatur
G. Behm-Blancke, Kult und Ideologie. In: Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa, Handbuch, Bd. 1 (Berlin 1988) 363-385.
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A. Muhl / C. H. Wunderlich, Eine germanische Götterstatuette – Neubewertung eines Altfundes. In: Archäologie in Sachsen-Anhalt, Bd. 9, 2018, 49-58.
M. Stenberger, Nordische Vorzeit, Bd. 4. Vorgeschichte Schwedens (Neumünster 1977) 287-290.