Marktbrunnen, Lutherstadt Wittenberg
Oktober 2024
Der Brunnen auf dem Wittenberger Marktplatz (Abbildung 1) entstand laut Inschrift 1617, einhundert Jahre nach dem Thesenanschlag Luthers, in Architektur- und Dekorationsformen der Spätrenaissance beziehungsweise des Manierismus. Zwei der Aufsätze auf dem Architrav zeigen figürliche Reliefs: dekorative weibliche Masken (Abbildung 2), wie sie zum Formengut der sogenannte Groteske gehören. Die rahmenden Kartuschen sind in Rollwerk gehalten, das mit dem am Wasserkasten verwendeten Beschlagwerk verwandt ist. Darüber hinaus gibt es Elemente des Knorpelwerks – eine typische Groteskdekoration des niederländischen Manierismus, die in gedruckten deutschen Ornament-Vorlagen etwa zeitgleich, im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erstmals vorkamen und um 1617 geradezu tagesaktuell waren. Der Marktbrunnen in seiner repräsentativen Pracht verkörpert damit den künstlerischen Entwicklungsstand am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges.
Wittenberg erlebte damals den Abschluss seiner historischen Blütephase in der Fortsetzung der Reformationszeit, als die Universität ›Leucorea‹ noch immer ein Brennpunkt humanistischer Bildung im Reich war. Durch das Wirken der hier ansässigen, überregional agierenden Buchdrucker, Buchhändler und Verleger war die Stadt zudem einer der dominierenden Orte des Buchdrucks und des Buchhandels mit europaweiter Ausstrahlung geworden.
Den Auftrag zur Errichtung gaben der Rat der Stadt und die »Nachbarn« – die Anwohner, deren Häuser nicht an eines der Röhrwassersysteme angeschlossen waren und die dort ihr täglich benötigtes Trink- und Brauchwasser holen mussten. Das Wasser kam aus einem bereits im Mittelalter angelegten Tiefbrunnen und war nicht Teil des Röhrwassers. 1724 musste der Brunnen ein erstes Mal erneuert werden. 1926 bis 1928, im Zusammenhang mit der Sanierung des Rathauses, wurde auch der Brunnen teilweise erneuert und zum Laufbrunnen umgerüstet.
Dabei hat man die Säulen und den Wasserkasten kopiert und ersetzt. Anstelle der Pumpe wurde eine Sandsteinkugel mit vier Ausflüssen eingebaut und der Marktbrunnen an das Röhrwasser angeschlossen. 1948 wurden dann auch die Aufsätze kopiert und ersetzt, sodass kein Originalteil von 1617 mehr am Brunnen vorhanden war. 1967, anlässlich des 450jährigen Reformationsjubiläums, wurde das ganze Werk, vor allem die schon wieder abgewitterten Reliefs, noch einmal gründlich überarbeitet. Bis 1983, dem Jahr des 500. Geburtstags Martin Luthers, traten erneut starke Schäden auf, die zu Teilergänzungen führten.
Anlässlich seines 400jährigen Bestehens im Jahr des 500. Reformationsjubiläums 2017 sollte der Marktbrunnen baulich instand gesetzt und in seinem Erscheinungsbild verbessert werden. Nach ersten, 2012 begonnenen, gemeinsamen Untersuchungen, Recherchen und Abstimmungen kamen ab 2015 die Lutherstadt Wittenberg, die Planerin Astrid Lüddecke aus Mühlanger, der Bildhauer und Restaurator Markus Gläser aus Leipzig und das LDA überein, die schadhaften, nicht originalen und in zahlreichen Details veränderten Teile des bestehenden Brunnens nicht noch einmal zu überarbeiten, sondern ein zweites Mal eine Replik herzustellen, die alle Veränderungen ausblenden und dem ursprünglichen Kunstwerk von 1617 so nahe wie möglich kommen sollte. In den Städtischen Sammlungen hatten sich eine Säule, ein Säulenkapitell, eine Seitenplatte des Wasserkastens und ein Eckstück des Architravs fragmentarisch erhalten, die 1928 als Kopiervorlage gedient hatten und nun eine exakte Rekonstruktion der Säulen und der Beschlagwerkornamente ermöglichten. Die Aufsätze mit den Masken wurden von Markus Gläser nach historischen Fotografien neu geschaffen.
Die künstlerische Gestaltung von 1617 bestand allerdings nicht nur in der Bildhauerarbeit, sondern zugleich in einer artifiziellen Farbfassung, die die Kostbarkeit des Werkes erst angemessen zur Geltung brachte. Diese Farbfassung überlieferten weder die Brunnenkopie von 1928 und 1948 noch die bereits mehrfach überarbeiteten, geborgenen Altteile. Dennoch ist sie für das prächtige Erscheinungsbild des Marktbrunnens von entscheidender Bedeutung. Dafür hat Diplom-Restaurator Helfried Weidner, damals im LDA, auf der Grundlage von Stilanalogien ein Farbkonzept erarbeitet, das dem historischen Bild manieristischer Kleinarchitekturen sehr nahe kommt und eine Vorstellung von dem überwältigenden künstlerischen Eindruck des Marktbrunnens im Jahr 1617 ermöglicht. Ausgeführt wurde die Farbfassung von Jürgen Wolf aus Pretzschendorf in Sachsen.
Text: Mario Titze
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta