Wernigerode - Rathaus
Dezember 2025
Selten wird in der Kunstgeschichte, noch weniger in der Denkmalpflege, ein Bauwerk nach seiner Ästhetik bewertet. Gerade diese Facette aber prägt nachdrücklich das Wernigeröder Rathaus (Abbildung 1). Vor allem die Fassade mit den beiden polygonalen Eckerkern, spitzbehelmt, von Giebelchen eingefasst, dazwischen das mächtige Walmdach, davor die Freitreppe, ist ein einzigartiger Wurf, nirgendwo anders mehr erreicht und daher ohne Vergleichsbeispiel. Rathaus ist das Bauwerk erst seit 1528, nachdem das eigentliche Verwaltungsgebäude den Flammen zum Opfer gefallen war. Errichtet im 13. Jahrhundert als »Spielhaus« – hier gab es Tanzvergnügen, Theater und Gauklervorführungen, hier wurden Handelsgeschäfte abgewickelt und zu Gericht gesessen – erhielt das Gebäude ab 1494 durch die Zimmermeister Andreas Sprengel und Thomas Hilleborch seine heutige spätgotische Gestalt (Abbildung 2).
1530 wurde das benachbarte Schierstedtsche Haus, die alte Ratswaage, in den Baukomplex integriert, ein Fachwerkbau, der schon 1455/56 errichtet worden war. Veränderungen des 17. bis 19. Jahrhunderts vermochten nicht, das spätmittelalterliche Erscheinungsbild zu trüben. In den 1930er Jahren kamen weitere Gebäudeteile hinzu, allesamt in historisierender Fachwerkbauweise. Eine gestalterische Besonderheit des Wernigeröder Rathauses ist sein reicher Figurenschmuck an Knaggen und Balkenköpfen. Insgesamt 54 menschliche Figuren bevölkern Hauptfassade, West- und Ostseite, zumeist entstanden im 15. und 16. Jahrhundert aber auch in den 1930er Jahren (Otto Welte). Das Fachwerk ist nicht rein niedersächsisch (Knaggen, Figuren), sondern orientiert sich, auch was die Kubatur anbelangt, an hessisch-fränkischen Bauten (Eckerker, Walmdach). Besonders das Rathaus in Michelstadt (um 1484) kann als Vergleichsbau herangezogen werden. Völlig zu Recht gilt Wernigerodes Rathaus als »eines der bedeutendsten Fachwerkhäuser Deutschlands« (Prof. Ulrich Großmann, Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg).
Text: Mathias Köhler
Online-Redaktion: Sarah Krohn

