Die ›Reise ins Weltall‹ begann vor über 3600 Jahren
Von der Himmelsscheibe von Nebra zum ersten Schritt auf dem Mond
18. Juli 2019
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Neue Horizonte – so lautet nicht nur der Arbeitstitel der Sonderausstellung zur Himmelsscheibe von Nebra, die 2020/21 im Landesmuseum für Vorgeschichte gezeigt werden soll, neue Horizonte erreichte die Menschheit auch am 20. Juli 1969 (amerikanischer Zeit), als Neil Amstrong und Buzz Aldrin die ersten Fußspuren auf dem Mond hinterließen.
Die Faszination Mond reicht jedoch noch viel weiter in vorgeschichtliche, schriftlose Zeiten zurück. Die Himmelsscheibe von Nebra zeigt die weltweit älteste konkrete Darstellung astronomischer Phänomene rund um den Mond.
Das einzigartige Objekt – im Jahr 2013 in das UNESCO-Dokumentenerbe ›Memory of the World‹ aufgenommen – bezeugt ein außergewöhnlich großes astronomisches Verständnis. Trotz der Einfachheit der Darstellungen handelt es sich um für jene Zeit unerwartetes Wissen, das die Himmelsscheibe abbildet. Vergleichbar mit der Golden Record, die 1977 mit der Voyagersonde ins All geschickt wurde und Botschaften der Menschen an Außerirdische übermitteln soll, birgt die Himmelscheibe Informationen einer versunkenen Kultur, die es zu entschlüsseln galt. Die Himmelsscheibe ist Ausdruck der ewigen Sehnsucht nach dem Mond und nach Wissen um den Himmel, was 1969 mit der ersten Mondlandung seinen damaligen Höhepunkt erreichen sollte.
Dieser durch die Himmelsscheibe ausgedrückte Wissensdrang vereint die Menschen der Bronzezeit mit uns heute und sie belegt, dass Mond und Himmel uns schon seit Jahrtausenden faszinieren.
Der Mond auf der Himmelsscheibe von Nebra
Die fächerübergreifende wissenschaftliche Erforschung der Himmelsscheibe hat ergeben, dass sie in verschiedenen Phasen gestaltet wurde (siehe Anlage) und auf ihr verschiedene astronomische Phänomene dargestellt sind. So kann beispielsweise je nach Lesart das goldene, runde Objekt Vollmond oder Sonne sein. Es kann einerseits den Vollmond symbolisieren. In vielen Kulturen begann mit dem Vollmond zum Frühlingsanfang das Sonnenjahr. Oder es stellt die Sonne dar, die an diesem Tag ihren neuen Lauf durch das Jahr startet. Betrachtet man das goldene Rund genauer, so erkennt man um dieses herum einen feinen Strahlenkranz, eine Korona (Abbildung 1). Ob es sich dabei um die Strahlen der Sonne oder eine Akzentuierung des Mondes handelt, bleibt offen – es unterstreicht dabei einmal mehr den Doppelcharakter der Applikation. Eine heutige Bauernregel beispielsweise besagt: »Gibt Ring oder Hof sich Sonn' oder Mond, bald Regen und Wind uns nicht verschont« oder auch »Wenn der Mond hat einen Ring, folgt der Regen allerding«.
Ein anderes Phänomen, das wir der Himmelsscheibe entnehmen können, ist die Stellung des Sichelmondes zu der Sternkonstellation der Plejaden. Ist ein Sichelmond – so wie auf der Himmelsscheibe abgebildet – unterhalb der Plejaden zu sehen, ist ›die Welt in Ordnung‹ (Abbildung 2). Bewegt sich der Sichelmond jedoch oberhalb des Siebengestirns, so ist ungefähr eine Woche später eine Mondfinsternis möglich. So lässt sich eine Mondfinsternis – ein in früheren Zeiten durchaus böses Omen – zwar nicht vorhersagen, aber für einen bestimmten Zeitraum ausschließen. Damit hatte der Schöpfer der Himmelsscheibe Wissen, das ihn in besonderer Weise hervorhob. Er, der die Darstellungen auf ihr lesen und die Phänomene deuten konnte, war in der Lage, seine Herrschaft auf eine privilegierte Beziehung zu den Mächten des Himmels zu gründen.
Die Konstellation der Himmelskörper birgt aber noch mehr Informationen. In der Darstellung ist zum ersten Mal in so früher Zeit in Europa eine Schaltregel verschlüsselt, die das Sonnen- und das Mondjahr in Einklang bringt. »Ein solcher Lunisolarkalender kombinierte die Vorteile beider Systeme«, erklärt der Astronom Rahlf Hansen. Ein Mondjahr ist kürzer als ein Sonnenjahr (Abbildung 3). Nach drei Jahren entsteht so eine Differenz von 33 Tagen. Fügt man nun einen Schaltmonat ein, bringt man Sonnen- und Mondjahr wieder in Einklang. Der Zeitpunkt zum Einfügen des Schaltmonats ist dann gekommen, wenn die Plejaden neben einer nicht mehr schmalen, sondern bereits 4,5 Tage alten Mondsichel zu sehen sind – so, wie wir es auf der Himmelsscheibe erkennen (siehe auch Abbildung 2).
All dieses astronomische Wissen hatte der Schöpfer der Himmelsscheibe offenbar aus dem Vorderen Orient mitgebracht. So glaubt auch Rahlf Hansen, »dass die Schaltregel durch eine direkte Verbindung des Schöpfers mit Mesopotamien nach Mitteldeutschland kam« und nicht in der schriftlosen Region im Herzen Europas durch lange Beobachtungen des Himmels erkannt wurde. Dass während der Frühbronzezeit weitreichende Kontakte und Netzwerke bestanden haben, belegen zahlreiche Funde und deren Verbreitung, zum Beispiel Bernstein (Abbildung 4), der aus dem Baltikum stammend bis in den Vorderen Orient gebracht wurde. Diese Kontakte hatten weiterhin Bestand, belegt durch mittel- und spätbronzezeitliche blaue Glasperlen, die aus Mesopotamien stammen und von denen uunter anderem eine in Esperstedt (Gemeinde Obhausen, Saalekreis, Sachsen-Anhalt) gefunden wurde (Abbildung 5).
Sonne, Mond und Sterne. Die Phasen der Himmelscheibe
Im Zuge der wissenschaftlichen Erforschung der Himmelsscheibe von Nebra konnten nicht nur Herstellungs- und Benutzungsspuren dokumentiert werden (Abbildungen 6a bis 6c), auch die Anordnung von bestimmten Applikationen lässt eine deutliche Biografie erkennen. So konnten die Wissenschaftler verschiedene Phasen der Umgestaltung differenzieren (Abbildung 7).
In der ersten Phase der Himmelsscheibe – ungefähr im 18. Jahrhundert vor Christus – erkennen wir einen Himmel mit 32 Sternen sowie Voll- und Sichelmond (Abbildungen 8a und 8b). In dieser Phase zeigt sie ein mehrfach codiertes Bild, welches das geheime Regelwerk für die Herstellung eines revolutionären Lunisolarkalenders widergibt (siehe obenstehenden Haupttext: Der Mond auf der Himmelsscheibe von Nebra).
In einer zweiten Phase – ungefähr in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor Christus – wurden am Rand der Himmelsscheibe zwei Goldbögen befestigt. Von diesen fehlte einer bereits bei ihrer Auffindung. Verschiedene makro- und mikroskopische Untersuchungen belegen jedoch eindeutig sein damaliges Vorhandensein. Mit den Goldbögen am Rand wird uraltes, seit Jahrtausenden tradiertes Wissen über den Jahresumlauf der Sonne dargestellt. Die Goldbögen geben dem Bild auf der Himmelsscheibe eine neue Bedeutung sowie Himmelsrichtungen, die auf die Vorstellungen eines Kuppelweltbildes schließen lassen. Hielt man sie horizontal, wies der nördliche Rand von (dem heute verlorenen) Horizontbogen 2 in Richtung Brocken. So war die Himmelsscheibe automatisch genordet. Vom ihrem Deponierungsort aus gesehen geht die Sonne zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende (um den 21. Juni) hinter dem Brocken und am 1. Mai hinter dem Kyffhäuser unter.
In einer dritten Phase – ungefähr in der Mitte des 17. Jahrhunderts vor Christus – wird ein weiterer Bogen angebracht. Nach Form und Verzierung, entsprechend bekannter archäologischer Beispiele, ist dieser als mythologisches Sonnenschiff zu interpretieren. Mit der Anbringung des Schiffes als Symbol einer religiösen Vorstellung wird die Himmelsscheibe vom Informationsträger zum Kultbild einer neuen Mythologie.
Danach – ungefähr am Ende des 17. Jahrhunderts vor Christus – wird der Rand der Himmelsscheibe 39 mal durchlocht, möglicherweise, um sie an einer Standarte anzubringen. Damit verlieren sowohl die Horizontbögen als auch das Schiff ihre Bedeutung. Die neue Religion ist gescheitert. Vermutlich erfolgt eine Rückbesinnung auf traditionelle, auf die Sonne bezogene religiöse Werte.
In der letzten Phase – ungefähr in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor Christus –wird die Himmelsscheibe durch das Entfernen einer der beiden Horizontbögen rituell unbrauchbar gemacht und vergraben.
Kontakt
Dr. Alfred Reichenberger
Stellvertretender Landesarchäologe, Pressesprecher und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit
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